Höhlenangst
darauf schließen lasse.
»Aufgrund der Vorfindungssituation«, resümierte Winnie, »ist davon auszugehen, dass der männliche Verunglückte aufgrund einer Unachtsamkeit oder eines Kletterfehlers aus der Engstelle in die Halle gestürzt ist. Die tödlich verunglückte Frau könnte beim Versuch, zu ihrem verunglückten Mann zu gelangen, gegen die Wand gependelt und in hilfloser Lage am durch den Sitzgurt verursachten Stopp des Blutflusses verstorben sein.«
Eine vollständige Bankrotterklärung für seinen Höhlenkameraden Hark. Winnie bescheinigte seinem Kletterpartner und Exkursionsleiter Kardinalfehler. War das der Preis gewesen, den Hark dafür hatte zahlen müssen, dass Winnie ihn nicht des Totschlags an seiner Frau bezichtigte?
Ein so genanntes Tötungsdelikt ist meist ganz einfach strukturiert. Hark hatte Sibylle den Durchschlupf hinuntergestoßen, sie hatte den Petzl-Stop geistesgegenwärtig losgelassen und war gegen die Wand gekracht. Er war hinterhergepetzelt, um zu schauen, wie es stand. Vielleicht hatte es ein Handgemenge gegeben, dabei hatte sie seinen Abseiler außer Gefecht gesetzt, und er war abgestürzt. Leider hatte sie damit ihre eigene Chance auf Rettung vertan.
Heute früh hatte ich dann Richard in Harks Küche eingeschleppt, einen offiziell aussehenden Herrn im Anzug, der nach Winnie in seiner Eigenschaft als Höhlenspezialist fragte. Mörder hatten Angst, und Angst machte egozentrisch. Womöglich hatte Hark plötzlich befürchtet, dass Winnie vor diesem Herrn mit der aggressiven Intelligenz in den asymmetrischen Augen einknickte und sein Gutachten widerrief, und ihn in die Luft gejagt.
Wobei zwei Fragen die stille Einfalt der Konstruktion störten: Erstens, wie war Hark an Richards Handy gelangt? Und was hätte ihn veranlassen sollen, ausgerechnet dieses Handy eines Unbekannten an der Mondscheinhöhle zu deponieren, nachdem oder bevor er die Leiche ein Stockwerk tiefer getreten hatte? Auf jeden Fall aber hatte ihn dieses Handy darüber informiert, dass die Leiche in der Mondscheinhöhle entdeckt war. Und zweitens: Wie und wann hatte Hark eine Landmine in Winnies Transporter scharf gemacht? Hätte Eva es Janet te oder mir gegenüber erwähnenswert gefunden, wenn Hark Fauth heute Nachmittag einen Besuch bei Winnie in Bad Urach gemacht hatte? Nun ja, Gerrit würde mir wohl sa gen, ob sie beide oder sein Vater alleine am Spätnachmittag noch bei Winnie gewesen waren.
Ich machte das Licht aus und zog die Decke in Janettes Gästezimmer bis zum Kinn. Im Polizeigewahrsam auf der Plastikmatte einer Betonpritsche lag Richard jetzt unter einer rauen Decke, ohne Schnürsenkel – hatte er überhaupt Schnürschuhe angehabt? –, ohne Krawatte, seiner Uhr beraubt, ohne Feuerzeug oder Kugelschreiber. Hatte man ihm Zigaretten und ein paar Streichhölzer gelassen? Ich hatte keine Ahnung, wie die Zellen in Reutlingen aussahen, aber sicher stank es aus dem Abort.
Oder war Kommissar Abele verrückt genug, Richard noch in dieser Nacht zu verhören? Oder zu vernehmen, wie Richard das auszudrücken pflegte, denn seit der Na zizeit gab es keine Verhöre mehr. Natürlich auch keine Folter. Weder Schlafentzug noch Drohungen. Nicht einmal einen Kaffee zur Belohnung durfte man einem Beschuldigten versprechen, wenn er gestand.
Das Blut pochte mir durch die Adern, mein Herz raste, die Nieren pumpten. Unwillkürlich spürte ich wieder die Nadelstiche von Kälte und Angst, die ich vor gar nicht langer Zeit bei einem Verhör hatte ausstehen müssen. Es hatte mit einer Schlinge um meinen Hals geendet. Erst im letzten Moment hatte Richard mich gerettet.
Ich machte wieder Licht, denn meine volle Blase verlangte Entleerung, und zog mir den neuen Bademantel übers neue Nachthemd, beides im Stil von Mode-Hipp an der Ecke. Ich strullte und tappte, einem spontanen Impuls folgend, hinüber in Florians Männernest.
Tür zu, Licht an, Computer an. Während das Ding hochfuhr, durchkramte ich Regale, Papierkorb und Schreibtisch: Bücher, Prospekte, Werbung, Versandhausrechnungen für Jeans, Kinderkleider, Tee und Mikrofa sertücher, Telefonnummern auf Briefumschlägen, Visi tenkarten.
Florians Computer war durch ein Passwort geschützt. Ich probierte es mit den Worten »Laura«, »Janette«, »Flori«, »Scheiße«, »Sommer«, »Speläologie« und so weiter, aber wer seinen heimischen Computer mit einem Passwort schützte, besaß so viel Sicherheitsbewusstsein, dass er Buchstaben mit Zahlen mischte. Übrigens handel te es sich
Weitere Kostenlose Bücher