Höhlenwelt-Saga 02 - Leandras Schwur
stoßen.
Aber er ahnte, dass er so viel an Skrupellosigkeit und Brutalität nie und nimmer würde aufbringen können. Er hatte schon einmal einen Menschen getötet, einen Soldaten, der sich an der bewusstlosen Leandra hatte vergreifen wollen, aber das war in Notwehr gewesen; nein, nicht einmal das - genau genommen war er durch einen kuriosen Unfall umgekommen. Und den hatte Victor nicht einmal selbst herbeigeführt. Alle weiteren Opfer seiner Kämpfe waren nichts als stygische Kreaturen gewesen; Monstren, die nur aus den bösen Kräften herbeigerufener Dämonen bestanden und die in grauen Staub zerfielen, wenn man ihre innere Struktur zerstört hatte.
So gesehen besaß Victor einfach nicht die Kraft, aus sich heraus eine solche Tat zu begehen. Und Roya schon lange nicht. Bis jetzt hatte sich kein Augenblick ergeben, in dem er Roya hatte froh und glücklich erleben können - zu bedrohlich und gefahrvoll war bisher alles verlaufen. Aber dennoch, so viel Menschenkenntnis besaß er, um sicher zu sein, dass Roya normalerweise ein überaus friedfertiges und gutartiges Wesen besaß. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte - ihnen blieb nur noch ein Ausweg: die Flucht in der folgenden Nacht. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht wieder irgendwo in einer Festung oder etwas Ähnlichem die Nacht verbrachten.
Bald nach ihrem Start überflogen sie schon die Blaue Ishmar, und Victor glaubte sogar die alte Schmiede kurz erkennen zu können, in der Leandra damals den Dämonen in der Gestalt des Schmiedes Zarkos vernichtet hatte. Ein warmes Gefühl überkam ihn. Dies war der Tag gewesen, an dem ihm klar geworden war, dass er sich in sie verliebt hatte. Und es war auch der Tag gewesen, an dem sie ihn zum ersten Mal umarmt hatte. Er seufzte.
Roya, die neben ihm saß und um deren Schulter er während des Fluges ständig den rechten Arm hielt, blickte besorgt zu ihm auf. Offenbar hatte sie es als einen Seufzer der Anspannung und der Ratlosigkeit verstanden.
Das brachte ihn abermals zu ihrem Problem zurück. Er fluchte leise. Dieser widerwärtige Scolar saß dort vorn und es schien, als könnte er sie bis nach Veldoor bringen, ohne dass sie dagegen etwas zu tun vermochten.
Dann, als sie die Ishmar schon lange hinter sich hatten und die Gegend von Mittelweg erreichten, einem weitläufigen, flachen Gebiet mit wenig Stützpfeilern und riesigen Sonnenfenstern, kam von Nordwesten her ein einzelner Drache gesegelt.
Interessiert beobachtete Victor das Tier.
Es war ebenfalls ein Felsdrache und Victor hatte damals, auf seinem Flug nach Unifar, immer wieder andere Drachen gesehen, die sich neugierig näherten, um zu erkunden, welch seltsame Fracht ihre Artgenossen da beförderten.
Es war ein schönes Tier, kräftiger und ein wenig größer noch als ihr eigener Drache, und er zog einen weiten Kreis über ihnen und änderte seine Flugrichtung, sodass er bald darauf in gleicher Richtung mit ihnen flog - querab und ein wenig höher, zwei- oder dreihundert Ellen entfernt. Scolar bemerkte den Drachen ebenfalls und, maß ihn eine Zeit lang mit abschätzigen Blicken. Dann kam der fremde Drache näher.
Victor fragte sich verwirrt, ob er sie angreifen wollte. Aber das war sehr unwahrscheinlich. Drachen, und besonders Felsdrachen, waren nicht bösartig. Die meisten Drachenarten waren Pflanzenfresser, wenngleich es auch einige gab, wie die vierflügeligen Kreuzdrachen oder die gewaltigen legendären Malachista, die lebende Beute schlugen. Dennoch - sie griffen, nach allem was Victor wusste, keine anderen Drachen an, sondern nur Mulloohs, Murgos und andere Steppenbewohner. Die pummeligen Salmdrachen, sonst eigentlich als harmlos zu bezeichnen, sollten die einzigen Tiere sein, die es mit den schrecklichen Oga-Echsen des Landes Og, weit im Westen, aufnehmen konnten. Dass dieser Felsdrache dort drüben sie angreifen sollte, ergab keinen Sinn.
Dennoch kam er immer näher.
Scolars Gesicht spiegelte Verächtlichkeit gegenüber dem fremden Drachen, und Victor fragte sich, wie ausgerechnet dieser Mensch Drachenpilot geworden war - wo er für diese Tiere kaum mehr als Abscheu und Verachtung empfand.
Der fremde Felsdrache war nun recht nah herangekommen; er flog auf gleicher Höhe, kaum mehr als zwei Flügelspannweiten entfernt. Scolar schien das wütend zu machen.
»Hau ab, du Mistvieh!«, brüllte er dem anderen Tier entgegen.
Roya drängte sich schutzsuchend gegen Victor. Sie hatte keine Erfahrung mit Drachen und auch keinerlei Vorstellung davon,
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