Höhlenwelt-Saga 02 - Leandras Schwur
unverschämte Art und machte einen Schritt auf die Tür zu. Er nahm Schwung und warf den Rucksack in hohem Bogen aus der Tür in die Dunkelheit.
Ein Ächzer des Entsetzens entfuhr Leandra. Sie begriff sofort, dass der Rucksack in den Abgrund, in die Morne hinab fallen würde. Ihre wertvollsten Schätze befanden sich darin! Sie trat einen verzweifelten Schritt vor und hob hilfesuchend die Hand.
»Aha!« Der große Kerl grinste erfreut. »Also doch etwas Besonderes, was? Haha! Wie gesagt - das Zeug braucht ihr nicht mehr!«
Er nahm Hellamis Rucksack auf und zog probehalber das daran befestigte Leichtschwert aus der Scheide. Er glotzte es an und warf es dann durch die offene Tür in die Nacht hinaus. Augenblicke später nahm Hellamis Rucksack den gleichen Weg. »Los, fesselt sie!«
Hellami machte einen Schritt nach vorn. »Wollt ihr uns umbringen?«, rief sie und deutete nach draußen. »Sollen wir etwa mit gefesselten Händen dort den Felssteig hinab?«
Der Mann zog die Stirn kraus. »Stimmt auch wieder«, gab er zu. »Also los. Fesseln können wir euch auch unten im Tal. Aber keine Dummheiten, verstanden?« Die beiden Bewaffneten gaben den Weg frei, sodass sie vorausgehen konnten. Der bösartige große Kerl ging eben durch die Tür.
Plötzlich sagte Hellami leise: »Tja, Leandra - ich hatte gehofft, wir würden anders wieder ins Tal hinab kommen. Aber ich fürchte, wir müssen jetzt den gleichen Weg nehmen wie Marthis.«
Leandra fand kaum Zeit, den Schock zu verdauen.
Hellami hatte auf ein Wort eine leise Betonung gelegt, und Leandra war sofort klar, was ihre Freundin meinte. Wenige Augenblicke später durchschritten sie schon die Tür und standen auf dem Balkon. Niemand schien einen Verdacht zu hegen. Jetzt kam es darauf an, schnell und ohne Zaudern zu handeln. Die Kräfte mochten wissen, ob sie überleben würden.
Leandra holte tief Luft und blieb stehen. Sie wartete, bis Hellami neben ihr war. Die beiden Männer kamen hinter ihnen heraus.
»Los, ihr zwei! Da geht's lang!«
»Den gleichen Weg wie Marthis?«, fragte Leandra mit zitternder Stimme.
»Ja, verdammt!«, flüsterte Hellami tonlos.
»Also ... dann los!«
Eine Sekunde später war sie in der Luft und fühlte, wie ihr der Magen in die Kehle hochstieg. Sie hörte nur noch einige überraschte Rufe und Hellamis wimmernden Schrei in der Nähe.
Bruder Valerian schüttelte den Kopf, beugte sich herab und flüsterte Bruder Rasnor, der an seinem Schreibertisch saß, leise etwas zu.
Rasnor nickte, während Chast ihn, seinen Oberskriptor, misstrauisch von der Seite maß. Im fackelbeleuchteten Dämmerlicht dieser unterirdischen Katakomben waren die Gesichtszüge seiner Untergebenen kaum klar zu erkennen. Chast wusste, dass Rasnor ein machtgieriger kleiner Mistkerl war, der seine Untergebenen nach allen Regeln der Kunst schikanierte. Nicht, dass er der Einzige dieser Art in der Bruderschaft gewesen wäre. Nein, beileibe nicht.
Auf dem Tisch, an dem Rasnor vor Stapeln von alten Pergamenten saß und mit zusammengekniffenen Augen seine Aufzeichnungen studierte, stand nur eine einsame Kerze - und deren Helligkeit reichte nicht aus, um aus den Gesichtern von Rasnor und Valerian etwas Besonderes herauslesen zu können.
Schließlich wandte sich Rasnor seinem Meister zu. »Ich weiß nicht, ob dieser Antikryptus zu brechen ist«, sagte er mit seiner dünnen Stimme. »Wenn, dann werden wir Monate brauchen. Aber ... ich habe nicht allzu viel Hoffnung.«
Chast stöhnte auf.
Er erhob sich so heftig, dass sein Stuhl nach hinten kippte und zu Boden polterte. Er wandte sich um und hinkte wütend in Richtung der Tür. Der Zorn, den er in jeder Faser seines Körpers verspürte, war von urzeitlichen Ausmaßen. Er hatte Lust, diese ganze verdammte Bibliothek in Schutt und Asche zu legen. Vor dem Durchgang blieb er stehen und wirbelte herum.
»Warum, verdammt?«, brüllte er. »Woher weißt du das so genau?«
Rasnor und Valerian erschauerten. »Ich ... ich kann es Euch erklären, Meister Chast«, antwortete Rasnor kleinlaut.
Chast kochte. »Na los, du Versager!«
Während Valerian steif wie ein Stück Holz dastand und Chasts Blicke mied, wand sich Rasnor unter dem Druck, den sein Meister auf ihn ausübte. Dann aber mahnte sich Chast zur Beherrschung. Er erinnerte sich an das Streitgespräch, das er vor kaum mehr als zwei Stunden mit Magister Quendras ausgefochten hatte. Quendras hatte sich erlaubt, seinen Hohen Meister zurechtzuweisen, dass er nicht in die finsteren
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