Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
auch wenn er eine
unfassbare Bluttat begangen hatte. Während sie in ihrem Versteck den Tagesanbruch abwartete, grübelte sie verdrossen über
die Beweggründe der Menschen nach; darüber, ob es überhaupt
möglich war, ein Volk mit friedlichem Wohlwollen zu regieren und
darauf zu bauen, dass die Menschen schon von selbst erspürten,
was gut und recht war. Matz, so glaubte sie jedenfalls, war kein
Mörder aus Lust oder Boshaftigkeit, sondern nur ein Mann, dem
nie jemand den Unterschied zwischen Gut und Böse beigebracht
hatte. Er war vermutlich in einer Welt aufgewachsen, in der Mord
und Betrug so sehr zum täglichen Geschäft gehörten wie anderswo Essenkochen oder Holzhacken. Aber wie viele solcher Leute
mochte es geben – allein in Savalgor? Sie seufzte schwer. Sollte
sie je ihr Amt als Shaba ausüben, mochten ihr diese Erfahrungen,
auch wenn sie haarsträubend waren, vielleicht sogar nützen.
Aber bis zu diesem Tag war es noch weit. Womöglich zu weit,
als dass sie ihn je erleben würde. Wieder hob sie den Kopf, blickte zur Hafeneinfahrt und versuchte sie sich darüber klar zu werden, was sie nun tun sollte. Der große Stützpfeiler von Torgard,
südwestlich des Hafens im Meer gelegen, zeichnete sich dunkelgrau im Morgennebel ab. Aber je besser er sichtbar wurde, desto
unsinniger erschien es ihr, mit einem Boot dorthin fahren zu wollen. Eine geheime Festung war keine geheime Festung, wenn
man einfach hinrudern und hineingehen konnte. Und schon gar
nicht diese. Ihre Existenz, einstmals wohl eines der best gehüteten Geheimnisse des Palasts, war erst vor wenigen Wochen durch
die Kämpfe gegen die Bruderschaft bekannt geworden – doch sie
existierte im Innern des Stützpfeilers schon seit Jahrhunderten.
Die Hoffnung, von außen einen Zugang zu finden, war geradezu
lächerlich. Ihre Faust umschloss Guldors Halsband. Matz hatte es
sorgsam abgewaschen, was sich vergleichsweise einfach erwiesen
hatte. Das Blut hatte, anders als bei einem Stück Stoff oder Leder, nicht daran haften wollen. Wenn Alina mit einem Boot tatsächlich dort hinauswollte, würde sie es tragen müssen. Die Vorstellung bereitete ihr ein Würgen in der Kehle.
Sie entschied sich dagegen. Schon vor einer Stunde war ihr die
Idee gekommen, sich nach Jacaires Leuten zu erkundigen, jener
geheimnisvollen Gruppe von Schurken und Ganoven, die unter
Jackos Führung die Savalgorer Unterwelt unsicher gemacht hatten. Dass Jacko entkommen und bei ihnen war, hielt sie für ausgeschlossen, aber vielleicht gelang es ihr, bis zu einem wichtigen
Mann vorzustoßen, dem sie sich dann zu erkennen geben konnte.
Wenn sie von Jacaires Leuten Hilfe bekam, fand sie vielleicht doch
noch einen Weg nach Torgard. Die Frage war nur, ob Quendras
überhaupt noch dort war. Vielleicht hatte er wegen des steigenden Wassers oder wegen der Drakken längst von dort fliehen
müssen.
Alina blickte zum heller werdenden Himmel auf – es wurde Zeit,
dass sie von hier verschwand. Leise erhob sie sich und schlich
zurück in die Schatten der schmalen Gassen zwischen den Häusern, die an das Hafengebiet grenzten. Dort war sie verhältnismäßig sicher. Mit aller Vorsicht arbeitete sie sich voran. Wann
immer sie konnte, stieg sie Treppen und schmale Rampen hinauf,
um in höhere Gefilde zu gelangen – Savalgor mit seinen Turmhäusern bot zahllose versteckte Wege und geheime Pfade. Sie
fragte sich, wie die Drakken dieses Problem in den Griff zu bekommen gedachten. Würden sie diese Wege sperren? Wollten sie
hingegen hier überall patrouillieren, würden sie allein für die Hinterhöfe von Savalgor eine Wachmannschaft von tausenden benötigen. Diese Stadt zu beherrschen war ein sehr aufwendiges Unternehmen.
Sie blieb in der Hafengegend, stieß nach Osten in Richtung Palastbezirk vor und achtete darauf, immer einen Fluchtweg in die
Schatten zwischen Türmchen und verschachtelten Bauten zu haben. Ein Blick zum Himmel sagte ihr, dass der Tag bedeckt sein
würde. Eine graue Wolkenmasse verschleierte den Felsenhimmel
und ließ das erste Licht der Sonnenfenster nur zögernd zu der
gepeinigten Stadt dringen.
Die ersten Händler begannen trübsinnig ihr Tagewerk, öffneten
ihre Stände und Buden, während draußen, bei den Piers, Netze
auf die kleinen Fischerboote gewuchtet, Segel gesetzt und Ruder
in Pinnen gehängt wurden. Noch waren es wenige, die aus den
Häusern kamen; der Morgen war noch jung, und nach dem Überfall der Drakken hatte die Arbeitslust der Leute mit
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