Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
einem Todesurteil gleichkam, diesen Abstieg ohne Seil zu wagen.
Die Wand war nicht senkrecht, aber dennoch gehörig steil, und
selbst ein Sturz aus nur dreißig Ellen Höhe würde vollauf genügen, um ihr das Genick zu brechen. Was sie aber hier vor sich
hatte, waren eher dreihundert Ellen, vielleicht sogar mehr! Sie
blickte wieder hinauf und lauschte. Von den Drakken war nichts
zu hören, aber langsam wurden ihre Arme lahm, auch wenn sie
sich mit den Füßen abstützte. Noch ein weiteres Mal versuchte
sie, sich hinaufzuziehen, mobilisierte alle Kraftreserven, aber sie
schaffte es nicht. Dann kamen die Drakken zurück.
Der Erste postierte sich neben der Tür, trieb die drei anderen
an, die gleich nach ihm heraufkamen, und scheuchte sie in den
anderen Gang hinein, der in Richtung des Roten Ochsen führte.
Zuletzt sah er sich noch einmal um. Als er nach unten in ihre
Richtung blickte, hätte Alina beinahe aufgeschrien. Doch sie
zwang sich, völlig reglos zu bleiben, hämmerte sich ein, dass sie
sich keine Winzigkeit bewegen durfte, und starrte dem grässlichen Wesen mitten ins Gesicht. Für einen entsetzlichen Augenblick wirkte es so, als hätte der Drakken irgendetwas gespürt. Er
legte den Kopf schief, glotzte sie an. Bald würden sie die Kräfte
verlassen. Die Arme taten ihr weh, und ihre Lungen schmerzten
höllisch, denn sie hatte zu atmen aufgehört.
Endlich richtete sich der Drakken wieder auf, starrte noch einmal kurz ins Land hinab und war dann so plötzlich wieder verschwunden, wie er aus der anderen Tür aufgetaucht war. Keuchend holte sie Luft und presste die Augenlider aufeinander. Ihre
Arme und Hände schmerzten so sehr, dass sie glaubte, gleich
loslassen zu müssen. Sie prüfte, ob ihre Füße sicheren Halt hatten, löste dann eine Hand von dem Bäumchen und tastete nach
einer Ritze im Fels. Sie fand eine.
Augenblicke später hielt sie sich nur mehr an der Felswand und
war froh darum – die Schmerzen in ihren Gliedern ließen nach.
Sehnsuchtsvoll blickte sie nach oben. Jetzt, wo die Drakken fort
waren, hätte sie wieder eine Chance gehabt, zurück in die Stadt
zu gelangen. Aber was sollte sie dort tun? Würde sie Matz je wieder finden? Oder war er längst ein Opfer der Drakken geworden?
Savalgor bot ihr nur noch eine winzige Chance, die sich mit jedem
Tag verschlechterte.
Sie blickte nach unten. Der Fels war rau, sie sah etliche Griffe,
Spalten und Tritte. Wenn sie es tatsächlich schaffte, bis ganz hinab zu gelangen, würden ihre Aussichten wieder steigen, wenigstens erst einmal mit dem Leben davon zu kommen. Leandra und
Hellami hatten es auch geschafft. Vielleicht war ein Abstieg sogar
leichter als ein Aufstieg. Ganz bestimmt würde er nicht so viel
Kraft kosten.
Sie brauchte noch einige Sekunden, dann entschied sie sich, es
zu wagen.
Zaghaft untersuchte sie den Fels. Er war glücklicherweise
schräg genug, dass sie nicht nach hinten wegkippen würde.
Rechts fand sie eine weitere Ritze, links einen griffigen Vorsprung. Sie ging ein Stück in die Knie und machte sich daran, mit
den Füßen nach einem weiteren Halt zu tasten. Es gelang ihr. Ein
winziges bisschen Hoffnung keimte in ihr auf.
Stück für Stück kletterte sie tiefer, auch wenn der Regen langsam ihre Kleider durchdrang. Sie machte weiter; wie durch ein
Wunder fand sie immer wieder neue Tritte und Griffe. Irgendwer
hatte einmal gesagt, dass man beim Klettern immer zusehen sollte, drei feste Haltepunkte zu haben. Mit dem freien Arm oder Bein
konnte man nach einem neuen Halt tasten. Sie wusste nicht
mehr, wo sie das gehört hatte, aber es half ihr sehr. Als sie nach
einer Weile nach unten blickte, erkannte sie, dass sie ein Stück
geschafft hatte. Ein Blick nach oben bestätigte ihr das. Mit neuer
Zuversicht setzte sie ihren Abstieg fort. Zweimal überwand sie
schwierige Stellen, einmal rutschte ihr der linke Fuß ab, doch sie
konnte sich halten. Ihre Haare und ihre Hände waren nass, aber
sie hatte das Glück, dass der kalte Wind wieder abgeflaut war.
Stück für Stück gelangte sie weiter abwärts, und wenn die Kletterei nicht so anstrengend gewesen wäre, hätte sie vielleicht geglaubt, dass sie es tatsächlich schaffen könnte. Aber ihre Muskeln, ihre Finger, Hände und Oberschenkel schmerzten immer
heftiger. Dennoch – nach vielleicht einer dreiviertel Stunde glaubte sie, bereits die Hälfte geschafft zu haben. Dann kam ein neues
Problem auf. Sie merkte, dass es dunkler geworden war.
Der Abend brach herein,
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