Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
studierte sein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Was
ahnst du davon, was es für eine Frau bedeutet, ein Kind zu haben?«, fragte sie milde. »Und was es für Alina bedeutet, ihres
unter diesen Umständen bekommen zu haben – von einem unbekannten Vater, während sie entführt, gefangen gehalten und vergewaltigt wurde? Willst du es ihr antun, jetzt nur noch eine Marionette zu sein? Eine Puppe, die jemanden heiraten soll, um einen Thron zu besteigen, damit sie irgendeine Pflicht gegenüber
dem Land erfüllen kann? Woher soll sie den Mut und die Selbstachtung für ihre Aufgabe nehmen?« Victor starrte sie nur missmutig an. Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Nein,
Victor, das kannst du nicht verlangen. Keiner ahnt, was sie
durchgemacht hat. Sie hatte das schlimmste Los von uns allen zu
ertragen. Neun Monate in der Gewalt dieses Scheusals Chast! Ein
Kind im Leib, und nicht wissend, ob es nun tatsächlich von dir,
dem zufälligen Vater, oder nicht doch von Chast stammte! Kannst
du dir das überhaupt vorstellen?« Sie musterte kopfschüttelnd
sein Gesicht. »Ich könnte nicht mehr in den Spiegel sehen, wenn
ich dich jetzt zu ihr schickte und dir sagte: Heirate sie, verlasse
sie wieder, so schnell du kannst, und dann komm zurück zu mir.
Nein, Victor, das kann ich einfach nicht. Sie hat den besten Mann
und den besten Vater für ihr Kind verdient, den es nur gibt. Und
das bist du!«
Sie sah ihm an, dass ihm tausend Dinge auf der Zunge lagen, er
sich aber trotzdem zurückhielt. Ihr zuliebe.
»Nur du kannst ihr die Selbstachtung und die Kraft geben, die
sie braucht. Victor, ich möchte, dass du sie liebst. Sie hat es verdient für all das Leid, das ihr zugefügt wurde. Sie hat niemanden
außer dir, der ihr das geben kann. Sie ist klug, hat eine unglaubliche Ausstrahlung und ist die schönste Frau, die du dir überhaupt
nur vorstellen kannst!« Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Überleg nur: Was für ein Glück! Sie hätte ja auch eine
dumme, hässliche Gans sein können!«
Sein Gesicht verfinsterte sich. »Willst du sie mir etwa schmackhaft machen?«
Leandra sah ihn nur schweigend an, versuchte, seinen Zorn mit
ihrer Liebe zu ihm zu ersticken. »Und wie kommst du darauf,
dass sie mich überhaupt mögen würde?«, fragte er.
Leandra erwiderte abermals nichts. Mit der Zeit entspannte sich
Victors Gesichtsausdruck. Schließlich seufzte er. »Vielleicht ist sie
ja… wirklich nett. Aber dich dafür zu verlieren?« Er schüttelte den
Kopf. »Du bist so…« Ihm fiel nichts ein und er hob hilflos die
Schultern. »Ich frage mich nur, wie du so viel mehr Mitgefühl für
andere aufbringen kannst als für dich selbst. Du denkst ja mehr
an Alinas verletzte Seele als an deine eigene. Fragst du dich
manchmal auch, wie es dir selbst geht?«
Leandra sah zu Boden, sie wusste keine Antwort auf seine Frage.
»Es erinnert mich an Cathryn, deine kleine Schwester«, sagte
Victor. »Selbst damals, als ich dich nach Angadoor zurückbrachte,
halb tot und zu keiner Bewegung mehr fähig, hast du dich mehr
um Cathryn gesorgt als um dich selbst. Dafür habe ich dich damals zwar sehr bewundert, aber auch kaum verstanden. Du hast
mich fortgeschickt, damit ich deinen Tod nicht mit ansehen musste, wo du doch das Recht gehabt hättest, dass deine besten
Freunde bis zum letzten Augenblick bei dir sind.« Sie ließ ihn los
und wandte sich von ihm ab. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Es waren Tränen um ihretwegen, wegen dieser fatalen Neigung
zu dem, was Victor gerade beschrieben hatte. Warum konnte sie
nicht ein einziges Mal zuerst an sich selbst denken? Einfach zusammen mit Victor verschwinden und sich nicht darum kümmern,
was hinter ihr geschah? Sie würden schon irgendwo einen Ort
finden, an dem sie sich vor der Welt verkriechen konnten.
Nein, das konnte sie nicht. War das ihr Fluch – dass sie immer
nur helfen wollte? Der Fluch, durch den sie zur wichtigsten Figur
in diesem Kampf gegen die Bruderschaft und die Drakken geworden war, der ihr aber jetzt zugleich ein Bein zu stellen drohte?
Leandra schob diese Gedanken mühevoll beiseite. »Lass uns aufbrechen, Victor. Wir müssen bald den Roten Ochsen erreichen.«
*
Sie waren mit nur zwei Drachen losgeflogen. Es waren zwei
junge männliche Tiere – Leandra und Victor saßen auf dem Rücken von Meanak; Hochmeister Jockum und Quendras flogen mit
Lanianis. Leandra wollte direkt den Roten Ochsen ansteuern, und
das würde, auch wenn es dunkel war,
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