Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
plötzlich ab. Die Mitglieder des Rates hatten sich in der Saalmitte versammelt, und da bemerkte Leandra,
dass etwas sehr Seltsames passiert war. Es war deutlich zu erkennen, dass sie zwei Gruppen bildeten, eine Fünfer- und eine
Vierergruppe. Nur Altmeister Ötzli hielt sich als Ratsvorsitzender
abseits von ihnen. Aber diese beiden Gruppen schienen für alle
sichtbar Position zu beziehen. Die eine bestand aus den Prälaten
Ulkan, Oppen, Therbus und Hennan, und es war klar, dass diese
vier auf Seiten Alinas standen. Die anderen fünf – Zelko, Vandris,
Lormas, Uddrich und Cicon, standen auf der entgegengesetzten
Seite. Sie würden zu verhindern suchen, dass Alina Shaba wurde.
Die Spannung, die zwischen diesen beiden Gruppen herrschte,
hatte auf seltsame Weise vom gesamten Sitzungssaal Besitz ergriffen und vertiefte in diesem Zusammenspiel nur das, was
Leandra seit Minuten empfand. Die Leute starrten gebannt auf die
Männer des Rates.
»Es ist nicht so«, rief Cicon unvermittelt mit lauter Stimme in
den abebbenden Lärm, »dass diese junge Frau hier – ein entferntes Mitglied der früheren Shabibsfamilie – nun ganz von selbst
Shaba wäre! Nein, so ist es nicht!«
Zornige Widerworte erschallten aus allen Richtungen, auch aus
den Reihen der Soldaten. Aber es gab auch zustimmende Rufe.
Leandra sah sich überrascht um. Sie kannte niemanden von denen, die Cicons Rede zustimmten. Was waren das für Leute? Hatte die Bruderschaft etwa Gesinnungsgenossen unter das Publikum
geschleust?
»Auf Beschluss des Rates hin«, fuhr Cicon mit scharfer Stimme
fort, »müssen diese beiden hier, die Thronanwärterin und der
junge Mann, die Ehe schließen, um dem Volk nicht nur eine gesetzliche, sondern auch eine moralisch einwandfreie Regentschaft
zu gewährleisten.«
»Moralisch einwandfrei?«, bellte Ulkan seinem Amtskollegen
entgegen. »Machen wir doch erst einmal den Rat moralisch einwandfrei! Indem ihr Bruderschaftler euch endlich packt und verschwindet!«
Atemloses Schweigen breitete sich im Saal aus. Cicon sah sich
demonstrativ unter den Leuten seiner Gruppe um und blickte
dann kopfschüttelnd zu Ulkan. »Bruderschaftler? Was meinst du
damit? Was soll das sein?«
»Das weißt du ganz genau, verehrter Ratsbruder!«, erwiderte
Ulkan scharf. »Ich meine damit dich und deine vier Kumpanen,
die unser geschätzter, aber inzwischen leider verblichener Bruder
Chast hier vor einem Jahr eingeschleust hat!« Leandra sah einen
gefährlichen Konflikt aufkommen, nicht zuletzt auch dadurch,
dass Ulkan den Fehler begangen hatte, aus reiner Wut heraus
einen Angriff auf seinen Ratsbruder loszubrechen. Einen Angriff,
der nur wenig beweiskräftig war und den ein gewiefter Redner
nur allzu leicht zurückschlagen konnte. So geschah es denn auch.
Primas Uddrich trat hinter Cicon hervor und hob die Hände. »Bürger, hört mich an!«, rief er den Anwesenden zu. »Es gibt hier eine
Gruppe von Leuten, die versuchen wollen, den Rat zu sprengen!
Das darf nicht geschehen! Seit Jahrhunderten ist der Hierokratische Rat ein Garant für die Sicherheit und die Stabilität im Land!
Als die Cambrier die Shabibsfamilie ermorden ließen…«
Augenblicklich brach ein Tumult los. Leute schrien erzürnt auf,
andere schrien zurück. Leandra erschrak. Ihnen war ein schlimmer Denkfehler unterlaufen. Sie hatten das Gefühl der
Rechtschaffenheit ihrer Taten, das sie erfüllte, einfach auf die
Masse der Leute übertragen. »Wir haben uns getäuscht…«, flüsterte sie Hochmeister Jockum zu, der neben ihr saß. Er sah sie
mit gerunzelter Stirn an. »… sogar sehr getäuscht!« Aus ihrer
Stimme sprach Bitterkeit. »Es sind beileibe nicht alle Leute auf
unserer Seite.«
Jockum nickte, während er mit finsteren Blicken die heftig
durcheinander schreiende Menge maß. »Ich habe mir schon etwas in dieser Art gedacht«, sagte er. »Die Bruderschaft wird nicht
untätig geblieben sein, während wir fort waren. So nötig sie eigene starke Reihen braucht, so nötig hat sie auch den Rückhalt in
der Bevölkerung. Und die jetzige Lage ist ein fabelhafter Nährboden für Gerüchte und Verleumdungen.«
»Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!«, rief Ötzli so laut er
konnte durch den Lärm. »Ruhe, so behaltet doch Ruhe!«
Das lähmende Gefühl einer bevorstehenden üblen Niederlage
machte sich in Leandra breit. Schon einmal war sie in diesem
Saal vom Hierokratischen Rat gedemütigt und verstoßen worden;
ja, man hatte sie sogar als Mörderin
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