Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
verzweifelt nach Worten, um all ihre Abscheu auszudrücken, aber dann spürte sie plötzlich Jockums Hand auf ihrer
Schulter.
»Bürger von Savalgor!«, rief der Primas in die Runde. »Wir stehen vor einer schwierigen Zeit! Böse Mächte haben sich gegen
uns erhoben, und es ist wichtig, dass Akrania geeint ist! Deshalb
müssen wir unbedingt…«
»Nein!«
Wie ein scharfer Donnerschlag fuhr dieses Wort durch den Saal
und alle wandten sich um. Es war Altmeister Ötzli, der es ausgerufen hatte. Mit wenigen ausholenden Schritten stand er vor
Leandra und Jockum. »Ebenso wenig, wie ich die Streitereien der
Mitglieder des Rates geduldet habe«, rief er brüsk, »werde ich es
dulden, dass seine Befugnisse untergraben werden!« Leandra und
Jockum starrten ihn erschrocken an. »Dies hier ist der Sitzungssaal des Hierokratischen Rates, und der Rat ist zurzeit die einzig
rechtmäßige, gesetzliche und richterliche Gewalt in diesem
Land!«
Unter der Wut seiner Worte war auch der letzte Flüsterer verstummt.
»Der Rat hat die Entscheidungsgewalt und dabei bleibt es! Und
der Rat hat in ordentlicher Abstimmung beschlossen, dass der
Vater des Kindes gefunden werden und dass eine Eheschließung
stattfinden muss! Ist das nun ein für alle Mal klar?«
Leandra erkannte plötzlich, was hier gespielt wurde. Ötzli gehörte zu denen, die diese Hochzeit verhindern wollten.
Schwungvoll wandte er sich um und trat zu Alina.
Sie stand noch immer in der Nähe des Throns, nach wie vor von
den beiden Offizieren flankiert, und drückte Marie gegen ihre
Brust. Der Kleine wimmerte leise. Ötzli baute sich vor ihr auf und
stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Willigst du nun in diese Heirat ein?«, fragte er laut. Die Verächtlichkeit in seiner Stimme war gewiss niemandem entgangen.
Leandra dachte bei sich, dass er anstelle von >Heirat< auch
>teuflischer Pak< hätte sagen können.
Alina hatte den Blick erhoben. Sie sah ruhig in Ötzlis Gesicht
und wandte die Augen nicht einmal für eine Sekunde nach rechts
oder links. Leandra erkannte plötzlich, dass ihre Freundin tatsächlich die Kraft besaß, sich durch diese Demütigung nicht aus der
Fassung bringen zu lassen. Ihr Mund formte ein einfaches, klares
»Ja«. Es war leise gewesen, aber jeder hatte es hören können.
Es brausten keine Jubelstürme auf. Die Leute starrten sie nur
mit offenen Mündern an, in den Bann geschlagen von ihrer Kraft,
diesem Versuch, ihre Seele zu erniedrigen, widerstehen zu können.
Nicht einmal Unmut, Ärger oder verletzter Stolz waren ihr anzumerken. Leandra hätte viel darum gegeben, in diesem Augenblick Ötzlis Gesicht sehen zu können – aber er wandte ihr den
Rücken zu.
»Gut«, hörte sie ihn nach einer Weile knurren. Er drehte sich
um und fasste Victor ins Auge.
Der hatte sich schon vor Minuten von seinem Sitzplatz erhoben.
Zwischen ihm und Alina lagen viele Schritte und noch mehr Weg.
Ötzli wusste das.
Doch langsam ging Leandra auf, dass Ötzli gerade einen kapitalen Fehler begangen hatte. Er hatte gehofft, diese Hochzeit verhindern zu können, indem er entweder Alina oder Victor durch
seine demütigenden Worte dazu nötigte, nein zu sagen. Aber er
hatte sie beide unterschätzt. Auflehnung gegen Unterdrückung
war das vornehmliche Merkmal, das sowohl Leandra wie auch all
ihre Freunde auszeichnete, und ausgerechnet an diesem Punkt
den Hebel ansetzen zu wollen war grundfalsch. Ein grimmiges,
kleines Lächeln stahl sich auf ihre Züge, als sie Victors Gesicht
musterte. Alina hatte es ihm vorgemacht, und wiewohl er sich
heute morgen vielleicht noch mit Händen und Füßen gegen eine
Heirat gesträubt hätte, war jetzt plötzlich alles ganz anders.
Leandra kannte ihn. Niemals würde er dem verfluchten Ötzli
diesen Triumph lassen. Und Ötzli erkannte das in diesem Moment
selbst. Leandra konnte sein Gesicht nun sehen – es war grau und
wie zu Stein erstarrt.
Victor kam ihm zuvor. Er beantwortete die Frage, bevor Ötzli sie
überhaupt stellen konnte. Er nickte leicht und ein leises Lächeln
umspielte seine Mundwinkel. »Ich bin ebenfalls einverstanden«,
sagte er.
*
Es herrschte eine seltsame Stimmung in der Stadt, als Marko,
Meister Izeban und Jerik das nördliche Stadttor erreichten. Ein
einfacher Blick durch die riesige Toröffnung genügte, um zu erkennen, dass in Savalgor ein Aufstand getobt hatte. Verkohlte
Häuserfassaden und Dachstühle, umgeworfene Karren und auf
der Gasse herumliegender Unrat zeugten von Unruhen und
Kampfgeschehen.
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