Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens
Vor kurzem erst hatte sie eine lebendige Königin gesehen, das gewaltigste Wesen, das sie sich nur
vorstellen konnte, und jetzt bekam sie zu hören, dass selbst ein
seit viereinhalbtausend Jahren toter Leviathan noch immer nicht
wirklich tot war. Sie erhob sich und setzte sich wieder Griswold
gegenüber. In ihren Gedanken begann es zu ticken. »Wenn es
damals Hunderttausende waren, wie du sagst, und wenn seit viereinhalbtausend Jahren jährlich etwa vierhundert hinzukommen,
dann sind das…« Sie versuchte es im Kopf auszurechnen, aber sie
war nicht geübt darin, mit so großen Zahlen umzugehen. Griswold kam ihr zuvor.
»Ich weiß, was du meinst, Leandra. Überschlägig wären das…
nun, über zwei Millionen, nicht wahr? Aber das stimmt nicht ganz.
Anfangs, nach der großen Jagd, produzierten die Hüller vielleicht
zehn im ganzen Jahr. Die Population war katastrophal geschrumpft, und es gab nur noch eine einzige Königin. Es dauerte
bis heute, ehe diese vierhundert pro Jahr erreicht wurden. Aber
dennoch: Inzwischen könnte es, sagen wir, eine halbe Million von
ihnen geben. Aber auf das ganze Sternenreich verteilt, ist das
nicht viel.« Leandra nickte verstehend. Das Thema faszinierte sie.
»Und warum gibt es so wenige Königinnen? Unter einer halben
Million nur vierzehn?«
Griswold lachte leise auf. »Genau das ist das Problem, das die
Hüller zu lösen versuchen. Man hat ausgerechnet, dass es vor der
Großen Jagd Hunderte von Königinnen gegeben haben muss. Der
Halon ist riesig und bietet leicht Platz und Nahrung für alle. Das
Geheimnis liegt darin, dass die Leviathane erst sehr spät geschlechtsreif werden. Es vergehen fast tausend Jahre; vorher ist
er quasi geschlechtslos. Erst mit dem Übergang stellt sich heraus,
wohin er sich entwickeln wird. Entweder bleibt er geschlechtslos,
entwickelt sich zu einer Drohne, einem männlichen Leviathan,
oder er wird zu einer Königin. Das Verhältnis ist etwa 97 zu 3 zu
0,01.« Leandra stutzte. »Wie? Was meinst du damit?«
»Siebenundneunzig von hundert Jungleviathanen bleiben geschlechtslos, drei werden männlich, und nur ein Hundertstel davon wird eine Königin. Das heißt, unter zehntausend Jungleviathanen findet sich durchschnittlich nur eine Königin. Und man
muss über tausend Jahre warten, um herauszufinden, welcher
Leviathan das ist. Außerdem könnte die mögliche neue Königin
erst zweihundert Jahre später im folgenden Wurf auftauchen,
denn ein Wurf zählt ja nur maximal fünftausend Junge.« Leandra
stieß ein lang gezogenes Seufzen aus und ließ sich zurücksinken.
»Jetzt verstehst du’s, was?«, fragte Griswold lächelnd. »Das
Problem ist, wir können nicht so lange warten. Nicht über tausend
Jahre für jeden Wurf und noch mal zweihundert für den Folgewurf. Jede Königin erzeugt theoretisch in ihrem Leben fünf oder
sechs neue Königinnen und genügend Drohnen. Würde man sie
ganz in Ruhe lassen, hätte sich der Bestand innerhalb der letzten
viereinhalbtausend Jahre vermutlich wieder normalisiert. Dann
gäbe es jetzt wieder ein paar Hundert Königinnen und eine halbe
Million oder noch mehr Leviathane. Aber leider…«
»Ja, jetzt verstehe ich.« Leandra nickte. »Ich habe mich schon
gefragt, warum es ein ganzes Volk braucht, um diese Leviathane
zu beaufsichtigen.«
»Nur ein Teil von ihnen kümmert sich um die Pflege der Tiere
selbst«, erklärte Griswold weiter. »Ein anderer Teil arbeitet an
gewaltigen Rechenanlagen, um einen mehrere tausend Jahre in
die Zukunft reichenden Plan zu entwickeln, wie die Leviathane
gepflegt werden müssen, bis hin zu ihrer Tötung, um den Bedarf
an Schiffshüllen mit einem langsamen, aber zuverlässigen Wachstum der Population zu kombinieren. Jedes einzelne Neugeborene
wird markiert und sein ganzes Leben lang genau beobachtet. Die
Wissenschaftler der Hüller versuchen seit ewigen Zeiten ein Verfahren zu entwickeln, wie man vorausbestimmen kann, in welche
Richtung sich ein Jungleviathan entwickeln wird.« Griswold lachte
auf. »Aber ohne Erfolg. Wenn man wüsste, welches Tier zu einer
Königin wird, hätte man es leicht. Aber das weiß niemand.«
»Verstehe. Jeder Leviathan, der getötet wird, bevor er tausend
Jahre alt ist, könnte eine mögliche Königin sein.«
»Nicht nur das. Man muss auch sicherstellen, dass es immer
genügend Drohnen gibt. Und schließlich muss man auch daran
denken, dass diese Leviathan-Hege eine Riesenmenge Geld kostet. Ein gewisser Verkaufserlös ist zwingend
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