Hoellenengel
schon seit vielen hundert
Jahren tot«, sagte Víkingur. »Gestern habe ich
einen Toten ohne Arme und Beine in Holland gesehen, der so
zugerichtet worden ist. Und darüber hinaus: Der Leichnam, den
Þórhildur und ich betrachtet haben, war mit einer Art
Runenschnitzerei verziert, nicht unähnlich der, die hier auf
der Haustür ist.« »Ich wäre schwer
enttäuscht, wenn der alte Theódór diese Runen
nicht schnell enträtselt«, sagte Randver. »Ich
wette, das ist so eine Neonazischeiße und bringt uns auch
nicht wirklich weiter.«
»Wir machen hier heute Nacht nichts mehr«, sagte
Víkingur. »Die Spurensicherung kommt morgen nach der
Besprechung hierher, um ihre Untersuchungen abzuschließen.
Dagný, der ganze Ablauf und die Protokollierung sind
vorbildlich. Ich danke dir dafür. Es ist ein harter Tag
gewesen und ich stimme mit Randver überein, dass wir die
Besprechung morgen früh um neun Uhr halten sollten. Wir sehen
uns dann. Danke so weit für heute.«
*****
Þórhildur schlief, als Víkingur nach Hause kam.
Er war erleichtert, dass er nicht mit ihr darüber sprechen
musste, wie sich die Dinge in Amsterdam entwickelt
hatten.
Er ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu
putzen.
Die Handtasche von Þórhildur stand dort.
Víkingur verschloss die Tür und drehte den Wasserhahn
der Badewanne auf. Dann griff er nach der Handtasche.
In der Tasche klimperte es, als er sie vom Regalbrett neben dem
Waschbecken nahm. Auf ihrem Boden lagen zwei Fläschchen Gin,
wahrscheinlich aus der Minibar des Hotels.
Ferner eine Pappschachtel mit der Aufschrift »Aspirin«.
Er öffnete die Schachtel und sah, dass die Tabletten kleiner
als Aspirin-Tabletten waren. Auf der Rückseite des
Durchdrückstreifens stand Apozepam. Ein anderer Name für
Diazepam oder Valium, Beruhigungsmittel.
Außerdem fand er auch zwei Tablettenröhrchen aus
Plastik. Auf dem einen stand Ritalin, das bekanntlich Amphetamin
für Kinder enthält.
Die Handtasche hatte eine Innentasche mit Reißverschluss.
Víkingur zog den Reißverschluss auf. In der
Innentasche waren Lippenstift, Wimperntusche und ein Spiegelchen,
Münzen und ein Paket Papiertaschentücher.
Außerdem ein kleiner papierener Umschlag, die klassische
Verpackung für illegale Stoffe.
Víkingur öffnete den Umschlag und erkannte das
weiße Pulver. Er schnupperte daran, konnte aber nichts
riechen, feuchtete seine Fingerspitze an, stippte den Finger in das
Pulver und testete dann mit der Zunge. Er hatte keinen sensiblen
Geschmackssinn, aber die Taubheit an seiner Zungenspitze sagte
alles. Amphetamin oder Methamphetamin.
Unterhalb des Futters der Handtasche waren zwei weitere
Umschläge derselben Art.
Die Gerichtsmedizinerin, in Begleitung ihres Ehemannes,
Polizeidirektor von Reykjavík, hatte Drogen durch den Zoll
geschmuggelt. Die Konsequenzen waren simpel: fristlose
Kündigung. Sowohl für sie als auch für
ihn.
Víkingur stöhnte. Offensichtlich hatte
Þórhildurs Drogenkonsum nicht gerade erst begonnen,
sondern musste schon eine lange Vorgeschichte haben.
Die Umschläge zerriss er und warf sie mitsamt ihrem Inhalt in
die Toilette.
Er drehte den Wasserhahn an der Badewanne ab. Er hatte gar nicht
baden wollen. Der einzige Zweck war es gewesen, mit dem
Plätschern zu vertuschen, dass er in ihrer Tasche
herumkramte.
Vierzehn
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich alles
verändert. Die Frau, die er liebte und der er vertraute, sein
bester Freund auf der ganzen Welt, war sein Gegner geworden.
Verlogen, hinterlistig, unberechenbar.
Nein, Þórhildur war nichts von all dem. Im Moment war
sie anders als sonst. Sie war krank und es war seine Aufgabe, ihr
zu helfen.
Aber sie gestand sich nicht ein, krank zu sein, und noch weniger,
dass sie Hilfe benötigte.
Wenn er ihr verbot, zur Arbeit zu gehen, und einen Drogentest von
ihr verlangte, war das gleichbedeutend mit einem Rauswurf aus dem
Job, falls der Drogentest ein positives Ergebnis
brachte.
Seine Aufgabe war nicht, sie zu zerbrechen, sondern sie zu
schützen und zu stützen.
Dennoch gehörte es zu seinem Beruf, darauf zu achten, dass
alle seine Untergebenen den Gesetzen entsprechend arbeiteten. Die
Dienstpflichtverletzung eines Untergebenen im Job zu decken, war
schlecht. Den Gesetzesbruch seiner Ehefrau zu decken war
unverzeihlich.
Er versuchte, klar zu denken.
Þórhildur war eine passive Abhängige. Sobald sie
begann, Drogen zu nehmen, wurde sie zu einer aktiven
Abhängigen, die nach
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