Hoellenengel
machte.
Víkingur nahm das Bild und hielt es Þórhildur
vors Gesicht. Er konnte keine Atmung wahrnehmen, glaubte aber, auf
dem Glas einen Anflug von Beschlag zu sehen.
Er tätschelte ihr leicht die Wange und versuchte sie zu
wecken. Riss das Telefon aus der Tasche.
112.
Dann setzte er sich neben sie aufs Bett und zog sie vorsichtig zu
sich. Nahm sie in die Arme. Hielt sie fest.
Drückte ihr Gesicht an seins. Wiegte sich mit ihr in den Armen
vor und zurück. Versuchte, seine Gedanken zu strukturieren. In
seinem Geist fasste nichts anderes Fuß als das
Entsetzen.
»Nicht«, flüsterte er. »Nicht. Nicht. Nein.
Nicht gehen.«
Er legte Þórhildur wieder aufs Bett. Trocknete sich
die Augen mit dem Handrücken. Beugte sich nach den
Medikamentenpackungen und steckte sie in seine Tasche.
Er wusste weder ein noch aus. Konnte nicht fühlen, ob die Zeit
verging oder stillstand.
Wie unter Hypnose ging er ins Fernsehzimmer und hob eine
Häkeldecke auf, die zusammengefaltet auf dem Schaukelstuhl
lag, den er Þórhildur geschenkt hatte.
Ging wieder ins Schlafzimmer. Hob sie hoch und wickelte die Decke
um sie. Dann ging er los, mit seiner Frau auf den Armen, die Treppe
hinunter, die so eng war, dass es für die Sanitäter
mühsam wäre, dort mit einer Trage zu
hantieren.
Er stand mit ihr im Flur, bis er den Krankenwagen nahen hörte.
Öffnete dann die Haustür und ging dem Fahrzeug
entgegen.
*****
Ärzte erwarteten sie bereits, als Þórhildur auf
der Trage in die Notaufnahme gerollt wurde. Eine
weißgekleidete Frau sprach mit Víkingur und nahm die
Tablettenpackungen entgegen, die er eingesteckt hatte. Die Frau bat
ihn zu warten und folgte den Ärzten, kam dann aber wieder
zurück und fragte nach dem Namen von Þórhildur
und ihrer Versicherungsnummer.
Das Nächste, was Víkingur wusste, war, dass er in einer
kleinen Warteecke der Notaufnahme saß. Ihm gegenüber
saß ein Junge in einem Schlafanzug mit
Harry-Potter-Motiven.
Als der Junge Víkingurs Blick bemerkte, sagte er:
»Mein Bruder ist aus dem Etagenbett gefallen. Mama ist bei
ihm drinnen.«
»Aha«, sagte Víkingur und versuchte zu
lächeln.
»Er hat geblutet«, sagte der Junge. »Er wollte
ausprobieren, wie es ist, im oberen Bett zu
schlafen.«
Víkingur versuchte, eine passende Antwort zu finden, aber es
fiel ihm nichts anderes ein als: »Aha.«
»Ich bin mal genäht worden«, sagte der
Junge.
»Aha«, stöhnte Víkingur.
»Warum sagst du so oft >Aha«, fragte der
Junge.
Gute Frage.
»Entschuldige«, antwortete Víkingur.
»Meine Frau ist krank. Ich habe an sie
gedacht.«
»Muss sie genäht werden?«, fragte der
Junge.
»Nein, das bezweifle ich«, sagte
Víkingur.
»Das ist gut«, sagte der Junge. »Es ist voll
fies, wenn man genäht werden muss.«
»Aha«, sagte Víkingur.
Seine Gedanken rasten im Kreis.
Wieder und wieder stand er an der Tür zum Schlafzimmer.
Manchmal war Þórhildur gestorben.
Manchmal schlief sie zusammengerollt auf der weinroten Decke und
wachte auf, als er hereinkam, reckte sich und fragte: »Wie
spät ist es?«
Dann schüttelte sie die Locken aus ihrem Gesicht und er
umarmte sie und spürte einen Eisklumpen in seinen
Armen.
Als er aufschaute, war der Junge im Schlafanzug fort und ein Mann
in einem weißen Kittel war an seine Stelle
getreten.
Víkingur registrierte den Namen des Mannes nicht und
hörte zuerst nicht, was er sagte. Versuchte, aus seinem
Gesichtsausdruck abzulesen, ob die Botschaft gut oder schlecht
sei.
Der Arzt hielt die leeren Tablettenpackungen in der Hand und sagte:
»Atenolol ist ein Betablocker, das ist also ein Medikament,
was den Herzschlag verlangsamt und die Kraft, mit der das Herz
schlägt, verringert. Dieses Medikament wird gegen zu hohen
Blutdruck verschrieben und kann sehr nützlich sein. Eine zu
hohe Dosis, von der wir hier anscheinend ausgehen müssen,
birgt andererseits das große Risiko, dass der Herzschlag
komplett aussetzen kann. Das zweite Medikament, Stesolid, wird auch
Valium oder Diazepam genannt, entspannt die Muskeln und hat eine
beruhigende Wirkung; es verträgt sich deswegen nicht gut mit
dem anderen.«
»Lebt sie?« Víkingur konnte sich nicht auf den
Vortrag des Arztes konzentrieren.
»Ja, sie lebt, aber sie liegt immer noch im Koma«,
antwortete der Arzt. »Sie ist auf die Intensivstation
gebracht worden.«
»Wann wacht sie auf?« »Ich wünschte, ich
könnte das beantworten. Wir haben ihr Atropin gegeben, eine
Intubation vorgenommen und den Magen nach Gabe von
Weitere Kostenlose Bücher