Hoellenengel
Kohletabletten
ausgepumpt.
Sie wird jetzt beatmet und beobachtet. Wenn sie in den
nächsten Stunden nicht zu Bewusstsein kommt, müssen wir
eine Dialyse versuchen.«
»Was ist das?«
»Das ist eine Methode, um die Giftstoffe aus dem Blut zu
entfernen. Dabei wird der Patient mit einer sogenannten
künstlichen Niere verbunden.«
Koma. Beatmung. Künstliche Niere.
»Entschuldige«, sagte Víkingur. »Ich
verstehe nicht ganz ... Wann wird sie zu sich
kommen?«
»Das kann niemand voraussagen«, antwortete der Arzt.
»Sie schwebt immer noch in Lebensgefahr, und Bewusstlosigkeit
bzw. Koma kann lange währen.«
»Wie lange?«
»Unmöglich zu sagen.«
»Einige Stunden? Einige Tage? Einige
Wochen?«
»Ja. Es ist unüblich, dass das Koma länger als ein
paar Tage oder Wochen dauert. Zwei bis fünf Wochen
höchstens. Aber es gibt auch Ausnahmen und es gibt Beispiele
von Menschen, die jahrelang im Koma lagen.«
»Welche Chancen hat sie zu überleben?«
Die Antwort war so voller medizinischer Vorbehalte, dass
Víkingur spürte, wie der Arzt ihm zu sagen versuchte,
er solle sich auf das Schlimmste gefasst machen.
»Aber wo sie doch atmet, muss es doch möglich sein, sie
zu retten«, sagte Víkingur und schämte sich
zugleich für den fordernden Ton in seiner Stimme.
Er selbst war es, der sie hätte retten müssen.
»Ich kann dir versichern, dass wir alles tun, was uns
möglich ist«, sagte der Arzt. Víkingur sah, dass
»Þorsteinn« auf dem Plastikschildchen stand, das
an der Brusttasche des Arztkittels befestigt war.
Das Leben von Þórhildur lag jetzt in den Händen
eines völlig fremden Mannes.
»Darf ich sie sehen?«, fragte Víkingur.
»Darf ich bei ihr sein?«
»Selbstverständlich«, sagte Þorsteinn.
»Wir kümmern uns gerade darum, dass alles so ist, wie es
sein soll. Dann werde ich jemanden bitten, dich abzuholen und zu
ihr zu bringen.«
»Bald?«
»Ja. Bald.«
Der Arzt verabschiedete sich von Víkingur mit einem
Händedruck und entfernte sich anschließend schnellen
Schrittes.
Víkingur blickte ihm nach, aber dann verschwamm das Bild des
Arztes und an seine Stelle war Þórhildur getreten. Sie
lächelte und nickte ihm zu, wie sie es gewöhnlich tat,
wenn sie ihn ermuntern wollte, etwas zu tun, das er eigentlich gern
wollte und sich nur nicht zu gestatten traute.
Nicht gehen, bat er in Gedanken, aber das Bild verschwand und er
blieb allein zurück in einem kleinen Winkel des
Krankenhausflurs.
Gott, der allzeit in der Nähe ist, war nie unsichtbarer
gewesen.
*****
Er saß an ihrem Bett auf der Intensivstation und hielt ihre
Hand, hielt die Hoffnung fest und das Leben, das immer noch in
ihren Adern pulsierte. Mitten in der Nacht spürte er zum
ersten Mal eine Bewegung von Þórhildur. Die Finger,
die er in seinen Händen hielt, zitterten und zuckten. Er
meinte ihre Augenlider sich bewegen zu sehen und schoss auf der
Suche nach einem Arzt aus dem Zimmer.
Die Krankenschwester, die ihm auf dem Gang entgegenkam, sagte ihm,
dass auch bewusstlose Menschen sich bewegen können, ohne dass
es bedeute, dass sie aufwachten.
»Das ist genauso natürlich wie sich im Schlaf zu
bewegen«, sagte sie und strich Þórhildurs
Bettdecke glatt. »Es gibt sogar Fälle, in denen
Wachkomapatienten aufgestanden und umhergegangen sind, als
würden sie schlafwandeln. Beruhige dich und versuch, dich ein
wenig auszuruhen. Wir beobachten alle Lebenszeichen hier auf den
Monitoren im Bereitschaftszimmer. Soll ich dir etwas geben, damit
du besser einschlafen kannst?«
Das wollte er nicht. Wusste selbst kaum, ob er wachte oder schlief,
wie er so am Bett der Frau saß, die er über alles in der
Welt liebte. Die Zeit stand entweder still oder verging sprunghaft.
Gedanken kamen und gingen, ohne dass er sie greifen konnte.
Manchmal in Gruppen, die randalierten und aufeinander
einprügelten, ohne dass er für Ruhe sorgen konnte.
Manchmal schossen sie mit Schallgeschwindigkeit durch den Kopf und
manchmal bewegten sie sich schneckengleich. Es kam auf dasselbe
hinaus. Er gab es auf, seine Gedanken in den Griff bekommen zu
wollen, und versuchte, sich vom Chaos in seinem Kopf
abzuriegeln.
Seine Gefühle hatten sich zu einem festen Knoten
zusammengezogen, der fast zu ertasten war und oberhalb des Herzens
lag. Die Angst schnürte die Hoffnung ab.
Der Schmerz war so unerträglich, dass sein Bewusstsein
ertaubte. Er war hungrig, durstig, müde, schläfrig ohne
essen, trinken, ruhen oder schlafen zu können.
Er wünschte sich von
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