Hoellenfeuer
alle Ähnlichkeiten auf. Asasel hatte einen vollkommen verkrüppelten Körper. Er schien schief gewachsen zu sein, denn sein Rückgrat war so stark nach links verkrümmt, dass er keinesfalls in der Lage gewesen wäre, aufrecht zu stehen oder zu sitzen. Auch sein Gesicht wies nicht die Ebenmäßigkeit und Schönheit der Gesichter aller anderen auf. Es wirkte beinahe, als sei es von einer mächtigen Faust auf der rechten Seite mit ungeheurer Kraft zusammengedrückt worden. Er sah wahrhaftig aus wie die perverse und kranke Karikatur eines Engels. Ein böses Augenpaar funkelte Eleanor so niederträchtig an, dass sie unwillkürlich zu frieren begann. Asasel schien ihre Reaktion wahrgenommen zu haben, denn ein tückisches Lächeln zog sich über sein deformiertes Gesicht.
„Wer hat ihm das angetan?“, fragte Eleanor tonlos, während sie den Blick nicht von Asasel zu lösen vermochte.
„Gott!“, flüsterte Raphaels Stimme hinter ihr.
Eleanor öffnete entsetzt den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, trat völlige Stille unter den Engeln ein, als einer von ihnen hervortrat. Eleanor wusste, dass dies Samael sein musste. Doch erst jetzt sah sie ihn zum ersten Mal bei Licht.
Samael war wunderschön. Auch er war sehr groß gewachsen, seine Statur beeindruckend und mächtig. Er hatte ein junges und doch zugleich männliches Gesicht, das vollkommen von den strahlend blauen Augen bestimmt wurde, die in seinem Gesicht leuchteten. Eleanor glaubte, noch nie ein so unfassbar schönes Wesen gesehen zu haben.
„Engel des Herrn!“, erklang seine Stimme über den Berggipfel. Er hatte nicht laut gesprochen, doch seine Stimme drang mühelos in jeden Winkel von Gottes Schöpfung, füllte sie aus und verschmolz mit ihr.
„Ich habe euch hierher gerufen, um mit euch über jene Geschehnisse zu sprechen, die Gottes Weltordnung umstürzen könnten! Viele von euch haben es schon gehört – die Menschen haben ein Hilfsmittel ersonnen, mit dessen Hilfe sie in die Welt der Geister und Engel eindringen können.“
Ein erregtes Raunen und Wispern setzte unter den Engeln ein.
„Sie haben das Mittel einem jungen Menschenmädchen gegeben“, fuhr Samael fort. „Dadurch war sie in der Lage, unseren Bruder Raphael zu erkennen!“
Wieder setzte das Raunen unter den versammelten Engeln ein. Samael erhob beschwichtigend die Arme und brachte seine Zuhörer zur Ruhe. „Dieses Mädchen ist in Raphaels Traumwelt eingedrungen. Und mehr als das – sie kann aus dem gleichen Grund auch Kontakt zur Welt der Verdammten aufnehmen. Sie kann mit den Seelen der verfluchten Menschen reden und hat dies bereits getan.“
Samael ließ seine Worte wirken und sah sich bedächtig um.
„Ihr alle wisst, was dies bedeuten wird – wenn die Menschen erst einmal erkannt haben, dass es uns gibt, wird sich alles ändern. Ihr Wissen um unsere Existenz, mehr noch aber um unsere Aufgabe, wird Gottes Ordnung vollkommen sicher zusammenbrechen lassen. Niemand wird sich mehr zur Sünde verleiten lassen, denn niemand wird bei unserem Anblick mehr an Gott zweifeln können. Und niemand wird uns mehr ansehen können, ohne zu wissen, dass wir das Verderben bringen!“
Ein Sturm der Entrüstung brandete auf. Die Engel auf dem Berg erhoben sich fast geschlossen und schrien durcheinander. Es dauerte geraume Zeit, bis sich der Tumult soweit gelegt hatte, dass Samael seine Stimme erneut erheben konnte.
„Auch der Kontakt zur Totenwelt wird alles ändern! Die Lebenden werden die Toten regelmäßig besuchen und ihnen Trost spenden. Dann wird der ewige Aufenthalt der Verdammten auf dieser Welt nicht mehr länger ihre Hölle sein. Zudem werden die Toten die Lebenden dazu anhalten, ihre Sünden ungeschehen zu machen. Nichts wird mehr so sein, wie Gott es bestimmt hat. Wollen wir das zulassen?“
Einen Augenblick lang herrschte gespenstische Stille auf dem Berg. Dann erhob sich ein gewaltiges Brüllen und Tosen, als tausende von Engeln ‚Nein‘ schrien! Der Berg wurde in seinen Grundfesten erschüttert, er bebte und zitterte. Gerölllawinen lösten sich, Felsspalten taten sich auf und ein heißer Wind fegte über das Land.
Nachdem sich der Lärm gelegt hatte , spürte Eleanor, wie Raphaels Hände auf ihren Schultern sie ein letztes Mal drückten. Dann trat er an ihr vorbei und ging auf Samael zu. Er blieb neben ihm stehen und blickte auffordernd in die Runde.
„Ihr habt nicht alles gehört!“, wandte er sich an das Konzil. „Samael will euch glauben machen, dass von diesem
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