Höllenflut
starrte eine Zeitlang nachdenklich an die Decke. Auf den ersten
Blick wirkte der geniale EDV-Analytiker eher wie ein Penner,
der an der Straßenecke hockt und die Hand aufhält. Er band das
allmählich ergrauende Haar nach wie vor zu einem
Pferdeschwanz zusammen und kleidete sich immer noch wie ein
alternder Hippie. Was er auch war. Zugleich aber war Yeager
auch Herr über sämtliche Computersysteme und Datenbanken
der NUMA, darunter auch eine riesige ozeanographische
Datensammlung, in der alle Bücher, Zeitungsartikel und
Doktorarbeiten erfaßt waren, die je zu diesem Thema
geschrieben worden waren, unabhängig davon, ob sie
wissenschaftlich belegt, historisch bewiesen oder pure
Hypothese waren.
Yeagers elektronisches Reich nahm die gesamte neunte Etage
der NUMA-Zentrale ein. Es hatte Jahre gedauert, bis seine
Datensammlung stand. Sein Chef hatte ihm freie Hand gelassen
und unbegrenzte Mittel zur Verfügung gestellt, damit er
sämtliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Meeresforschung
und Unterwassertechnologie erfassen konnte. Die Ergebnisse
dieser Sammelleidenschaft wiederum standen weltweit allen
Studenten der Meereskunde sowie Ozeanographen,
Unterwassertechnikern und -archäologen zur Verfügung. Eine
enorm verantwortungsvolle Aufgabe, aber Yeager liebte seinen
Beruf mit Leidenschaft.
Er wandte sich zu dem wuchtigen Computer um, den er
höchstpersönlich entwickelt und gebaut hatte. »Ha, von wegen
Wurstfinger am Keyboard!« Hier gab es weder Keyboard noch
Monitor, sondern eine dreidimensionale Raumprojektion
unmittelbar vor dem Benutzer. Eine Tastatur war überflüssig, da
das Gerät auf mündliche Befehle reagierte. Eine Gestalt tauchte
vor Yeager auf, die aussah wie ein abgezehrtes Zerrbild seiner
selbst, und schaute ihn an.
»Tja, Max, du mußt surfen gehen. Bist du bereit?« sagte
Yeager, an die Projektion gewandt.
»Jederzeit«, erwiderte die Computerstimme.
»Beschaffe sämtliche verfügbaren Daten über einen gewissen
Qin Shang, einen chinesischen Reeder mit Hauptsitz in
Hongkong.«
»Nicht genügend Angaben für einen genauen Bericht«,
erwiderte Max monoton, »Zugegeben, allzuviel ist es nicht«,
sagte Yeager, der immer noch nicht raushatte, wie er sich mit
einer nebulösen Computerprojektion unterhalten sollte. »Streng
dich an. Und wenn du sämtliche Verbindungen durch hast,
druckst du alles aus, worauf du gestoßen bist.«
»Ich melde mich in Kürze zurück«, schnarrte Max.
Nachdenklich und mit schmalen Augen schaute Yeager auf
die Stelle, an der eben noch sein holographisches Ebenbild
gewesen war. Pitt hatte ihn noch niemals ohne guten Grund um
Datennachforschungen gebeten. Irgend etwas, das wußte Yeager
ganz genau, hatte sein Freund im Sinn. Pitt stieß ständig auf
irgendwelche Geheimnisse, und jedesmal geriet er dabei in die
Bredouille. Den zog es förmlich zur Gefahr hin, wie den Lachs
zu seinen Laichgründen, Yeager hoffte, daß Pitt ihn in das
Geheimnis einweihen würde. Bislang hatte er es immer getan,
immer tun müssen, wenn er vor Aufgaben gestanden hatte, die
ganzen Einsatz erforderten.
»Was, zum Teufel, hat der Kerl bloß diesmal vor?« murmelte
Yeager, an seinen Computer gewandt.
3
Der Orion Lake sah aus wie eine Träne, die sich nach unten
hin verjüngte und in einen kleinen Fluß überging. Es war kein
großer See, aber nichtsdestoweniger bezaubernd und
geheimnisumwoben, gesäumt von dichten grünen Wäldern, die
sich bis hinauf zu den grauen Felsbrocken der majestätischen,
wolkenverhangenen Olympic Mountains zogen. Zwischen den
Bäumen und auf den kleinen Lichtungen blühten leuchtendbunte
Frühlingsblumen. Über etliche Bäche strömte mineralienreiches
Schmelzwasser von den Gletschern hoch oben aus den Bergen
in den See herab und verlieh ihm seine blaugrüne Farbe. Der
kobaltblaue Himmel war mit schnell dahinziehenden Wolken
gesprenkelt, die sich in einem hellen Türkiston im Wasser
spiegelten.
Der Abfluß an der unteren Spitze des tränenförmigen
Gewässers hieß in Anlehnung an den See Orion River. Er
strömte rund fünfundzwanzig Kilometer weit friedlich durch
eine tief zwischen den Bergen eingeschnittene Schlucht und
mündete dann in eine fjordartige Bucht namens Grapevine Bay.
Die Grapevine Bay, vor Urzeiten von einem Gletscher
ausgehobelt, führte wiederum zum Pazifik. Der Fluß, auf dem
einst die Fischkutter ihren Fang zu der alten Konservenfabrik
befördert hatten, wurde heutzutage nur mehr von
Vergnügungsbooten und
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