Höllenflut
Wasser haben wollte, um sich dort ein
Feriendomizil mit allen Schikanen hinzustellen, in das er seine
betuchte Klientel einladen kann.« Colburn hielt inne und blickte
streitlustig auf. »Sie haben bestimmt gesehen, was der aus einer
einwandfreien Konservenfabrik gemacht hat. War nur eine
Frage der Zeit, bis sie von Staats wegen unter Denkmalschutz
gestellt worden wäre. Shang hat daraus eine Mischung aus
modernem Bürogebäude und Pagode gebaut. Eine Mißgeburt ist
das, sag' ich nur, ein verdammter Schandfleck.«
»Neumodisch sieht es auf jeden Fall aus«, pflichtete Pitt bei.
»Shang legt sicher Wert auf gutnachbarliche Beziehungen und
lädt die Bürger der Stadt von Zeit zu Zeit zu Partys und
Golfturnieren ein?«
»Soll das ein Witz sein?« sagte Coburn, der jetzt seinen
ganzen Ärger herausließ. »Shang würde den Bürgermeister und
die Stadträte nicht mal bis auf eine Meile an sein Grundstück
ranlassen. Der hat doch sogar fast den ganzen See mit einem
drei Meter hohen Maschendrahtzaun mit einer
Stacheldrahtkrone umgeben.«
»Kommt er denn damit durch?«
»Er kommt durch damit, weil er sich die entsprechenden
Politiker kauft. Er kann die Leute nicht vom See fernhalten. Der
gehört dem Staat. Aber er kann ihnen den Zugang so schwer wie
möglich machen,«
»Manche Menschen machen eben viel Getue um ihre
Privatsphäre.«
»Bei Shang ist das mehr als bloß Getue. Überall sind
Überwachungskameras, und ständig schleichen
schwerbewaffnete Aufseher durchs Gelände. Jeder Jäger oder
Fischer, der aus Versehen zu nah rankommt, wird wie ein
gewöhnlicher Krimineller behandelt und vom Grundstück
gescheucht.«
»Ich werd's mir merken und schön auf meiner Seite vom See
bleiben.«
»Ist vermutlich besser so.«
»Bis demnächst, Mr. Colburn.«
»Bis zum nächsten Mal, Mr. Pitt. Einen schönen Tag noch.«
Pitt blickte zum Himmel auf. Viel war von dem Tag nicht
mehr übrig. Die Spätnachmittagssonne stand nur noch knapp
über den Wipfeln der Nadelbäume, die hinter Colburns Laden
aufragten. Pitt stellte die Tüte mit den Lebensmitteln auf die
Rückbank seines Mietwagens und setzte sich ans Steuer. Er
drehte den Zündschlüssel um, schaltete die Automatik auf
normale Fahrt und trat aufs Gaspedal. Fünf Minuten später bog
er von der Asphaltstraße in einen Fahrweg ein, der sich rund
drei Kilometer weit durch einen Wald aus Zedern, Tannen und
Föhren wand und zu Foleys Hütte führte.
Nach einem etwa vierhundert Meter langen geraden Stück
stieß er auf eine Weggabelung. Von hier aus führte die
unbefestigte Piste links und rechts am Seeufer entlang, um sich
am oberen Ende wieder zu vereinen, dort, wo Qin Shangs
extravagantes Feriendomizil stand. Pitt mußte dem
Lebensmittelhändler unwillkürlich recht geben. Die ehemalige
Konservenfabrik war in der Tat in einen architektonischen
Wechselbalg verwandelt worden, der in dieser Berglandschaft,
an diesem wunderschönen See so unpassend wie nur etwas
wirkte. Es sah aus, als hätte der Bauherr zunächst eine moderne
Stahlkonstruktion mit freiliegenden Trägern und kupferrot
getönten Sonnenschutzfenstern errichten wollen, dann seine
Meinung geändert und das Ganze einem Baumeister aus dem
fünfzehnten Jahrhundert übertragen, etwa um die Zeit der MingDynastie, der ein geschwungenes Dach aus vergoldeten Ziegeln
obenauf gesetzt hatte, wie es die imposante Halle der Höchsten
Harmonie in der Verbotenen Stadt in Peking krönt.
Während Pitt die Einsamkeit der Landschaft genoß, dachte er
nach. Wenn die Sicherheitsvorkehrungen auf dem Grundstück
am anderen Ende des Sees wirklich so ausgefeilt waren, wie
man ihm in der Ortschaft erzählt hatte, wurde er vermutlich
bereits auf Schritt und Tritt überwacht. Er bog links ab, fuhr
noch einen knappen Kilometer weiter und hielt dann vor einer
hinreißenden Blockhütte mit Blick auf den See. Über eine
Holztreppe gelangte man hinauf zu der rund um das Haus
gebauten Veranda. Er blieb einen Moment lang im Wagen sitzen
und betrachtete zwei Stück Rotwild, die zwischen den Bäumen
ästen.
Die Wunden schmerzten mittlerweile nicht mehr, und er
konnte sich fast schon wieder so mühelos bewegen wie vor der
Tragödie. Die Schnitt- und Brandverletzungen waren
weitestgehend verheilt. Aber die inneren Wunden, die geistigen
und die seelischen, die brauchten länger.
Er hatte gute fünf Kilo abgenommen und strengte sich nicht
sonderlich an, die verlorenen Pfunde wieder zuzulegen.
Momentan fehlte ihm jeglicher
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