Höllenflut
großen, am Ufer stehenden
Haus mit einem Flaggenmast vorbeizog, an dem die Stars & Bars gehißt waren, das alte Banner der Konföderation. Bald,
sehr bald schon, würde die Flagge nicht mehr über dem
mächtigen Mississippi wehen, sondern über einem schlammigen
Rinnsal.
Auf der Brücke herrschte eine eigenartige Stille. Hungtschang
brauchte keine lautstarken Befehle zum Ändern des Kurses oder
der Fahrgeschwindigkeit zu erteilen. Ming Lin hatte das Schiff
voll im Griff. Er hielt das Ruder mit beiden Händen und blickte
auf einen großen Monitor, auf dem, durch Infrarotkameras an
Bug und Heck übermittelt, ein dreidimensionales Abbild des
Schiffes sowie seiner Position auf dem Fluß zu sehen waren.
Außerdem wurden am unteren Rand des Monitors
Kursempfehlungen und Anweisungen zur Geschwindigkeit
eingespielt, mit deren Hilfe er das Schiff sicherer und genauer
steuern konnte, als es bei Tageslicht und mit bloßem Auge
möglich gewesen wäre.
»Wir haben einen Schlepper mit zehn Lastkähnen vor uns«,
meldete Ming Lin, Hungtschang griff zum Schiffsfunkgerät.
»An den Kapitän des Schleppers, der sich St. James Landing
nähert. Wir überholen Sie. Wir sind eine halbe Meile hinter
Ihnen und werden auf dem Cantrelle Reach Steuerbord an Ihnen
vorbeifahren. Wir sind dreißig Meter breit, also geben Sie uns
bitte genügend Platz.»
Der Schlepperkapitän antwortete nicht, doch als die United
States in das Cantrelle Reach bog, sah Hungtschang durch sein
Nachtglas, wie der Schlepper langsam, viel zu langsam nach
Backbord beidrehte. Der Kapitän indessen, der die Nachrichten
aus New Orleans nicht verfolgt hatte, hatte keine Ahnung, was
für ein Koloß da mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn
zuhielt.
»Er wird's nicht rechtzeitig schaffen«, wandte Ming Lin in
aller Ruhe ein.
»Können wir die Fahrt drosseln?« fragte Hungtschang.
»Wenn wir nicht jetzt vorbeiziehen, wird es schwierig.
Danach kommt eine Reihe von Flußbiegungen, und da ist es
unmöglich.«
»Dann also jetzt oder nie.«
Ming Lin nickte. »Vom programmierten Kurs sollten wir
nicht abweichen. Das könnte das ganze Unternehmen
gefährden.«
Hungtschang griff erneut zum Funkgerät. »Kapitän, geben Sie
bitte rasch den Weg frei, sonst fahren wir Sie über den Haufen.«
Der Schlepperkapitän meldete sich aufgebracht: »He, der Fluß
gehört euch nicht allein, Charlie Brown. Was fällt euch ein, mir
so zu drohen?«
Hungtschang schüttelte mißmutig den Kopf. »Ich glaube, Sie
sollten lieber einen Blick nach achtern werfen.«
Daraufhin ertönte ein ersticktes Aufkeuchen. »Jesses! Wo
kommt ihr denn her?«
Dann drehten der Schlepper und die Lastkähne rasch nach
Backbord ab. Das Ausweichmanöver kam zwar noch rechtzeitig,
doch die gewaltige Welle, die der Ozeandampfer mit seinen
über vierzigtausend Tonnen Wasserverdrängung aufwühlte,
spülte über den Schleppzug hinweg und warf ihn auf den
Uferdamm.
Zehn Minuten später fuhr das Schiff um Point Houmas herum
benannt nach einem Indianerstamm, der einst hier gelebt hatte -,
zog an der Stadt Donaldsonville vorbei und passierte mühelos
die Sunshine Bridge. Als die Lichter der Brücke hinter der
Flußbiegung verschwanden, gönnte sich Hungtschang eine
Tasse Tee.
»Nur noch zwanzig Kilometer, dann sind wir da«, sagte Ming
Lin. Er sprach so beiläufig, als äußere er sich über das milde
Klima. »Zwanzig, allenfalls fünfundzwanzig Minuten noch.«
Hungtschang trank gerade den letzten Schluck Tee, als sich
ein Besatzungsmitglied, das auf der Steuerbordbrückennock
Wache stand, durch die Tür ins Ruderhaus beugte. »Flugzeuge,
Kapitän. Sie nähern sich von Norden. Klingt wie
Hubschrauber.«
Hungtschang wünschte jetzt, er hätte ein Radargerät. Aber da
dies die letzte Fahrt der United States war, hatte Qin Shang nicht
eingesehen, wieso er sich überflüssige Kosten aufbürden sollte.
»Können Sie feststellen, wie viele?«
»Ich zähle zwei. Kommen flußabwärts direkt auf uns zu«,
erwiderte der Wachmann, während er durch sein Nachtglas
spähte.
Kein Grund zur Aufregung, dachte Hungtschang. Entweder
waren es Polizeihubschrauber, die nichts gegen sie ausrichten
konnten - sie konnten sie allenfalls auffordern, die Maschinen zu
stoppen -, oder sie waren von Fernsehteams gechartert worden.
Er setzte sein Nachtglas an und blickte flußaufwärts. Und mit
einemmal strafften sich die Sehnen an seinem Hals, als er
erkannte, daß es Militärmaschinen waren.
Im gleichen Moment
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