Höllenherz / Roman
würdigen, und das verstand Talia tatsächlich. Ihre eigene Großmutter war die liebenswerteste Frau gewesen, die sie kannte, solange man sie nicht reizte.
»Ich fühle mich geehrt, Sie kennenzulernen.« Talia verneigte sich leicht vor Osan Mina, wie sie es bei Lor gesehen hatte. Womit sie eindeutig die richtige Geste gewählt hatte, denn die alte Frau trat beiseite und bedeutete ihnen hereinzukommen. Während sie ihre Mäntel und Stiefel auszogen, blickte Talia sich interessiert um. Alles war in so bunten, schillernden Farben gehalten, dass die Luft zu vibrieren schien.
»Ist Helver zu Hause?«, fragte Lor, der Mina in die Küche folgte. Talia hielt sich hinter ihm.
Mina antwortete auf Englisch: »Er hilft Obar Ranik, fegen Schnee vom Dach.«
»Dann gehe ich zu ihm. Inzwischen dürfte er lange genug geschmort haben.«
Talia und Lor setzten sich, Mina befüllte einen Emaillekessel und stellte ihn auf den Herd. »Erst trinkst du Tee. Du gehst raus, wollen alle reden mit dir. Kommst du nicht wieder zu Mina und Talia.«
Lor bedachte sie mit seinem typischen Grinsen. Er mochte seine private Wohnung einige Straßen entfernt schätzen, aber Talia hatte den Eindruck, dass es ihm auch gefiel, mitten im Geschehen zu sein. Er war eben die Bezugsperson des Rudels.
Ein kleiner Bücherstapel lag auf dem Tisch, ganz oben ein Kinderlesebuch. »Haben Sie Enkelkinder, Osan Mina?«
»Ich habe Enkelsohn, Helver.«
»Das sind seine«, sagte Lor, der zu den Büchern nickte. »Allerdings ist er ein junger Mann, kein Kind mehr. Die meisten Höllenhunde fangen gerade erst an, Englisch zu lernen.«
Die Lehrerin in ihr merkte auf. »Gibt es Sprachkurse für sie?«
»Nein, keine festen. Ein paar Freiwillige üben mit ihnen, wenn sie Zeit haben.«
Talia war entgeistert. Für sie war Lesen so natürlich wie Atmen. »Ich habe Bücher neben deinem Bett gesehen. Wo hast du Lesen gelernt?«
»Als ich in der Burg lebte, war ich mit einem Inkubus befreundet. Seine Mutter brachte es mir bei. Constance war freundlich zu mir, weil ich auf ihren Sohn aufgepasst habe.«
Talia griff nach der Lesefibel und schlug sie auf. Die Seiten waren schon ein bisschen ramponiert und mit Buntstiften bemalt. »Was ist mit den Kindern? Gehen sie zur Schule?«
»Wir suchen noch nach einer, die sie aufnimmt. Halbdämonen sind nicht überall gern gesehen.«
Talia legte das Buch wieder zurück und hatte Mühe, ihren Zorn zu bändigen. Die Menschen beschwerten sich dauernd, dass die anderen Arten sich nicht integrieren wollten; aber wie sollten sie denn, wenn ihnen jede Bildung verwehrt wurde?
Mina stellte ein Tablett mit Tee und Bechern auf den Tisch.
»Warum gründet ihr keine Privatschule?«, schlug Talia vor. Sie fragte sich, ob es geeignetes Lehrmaterial für die anderen Spezies gab.
Guck mal, wie Punkt-Punkt-Punkt laufen kann! Guck mal, wie Punkt-Punkt-Punkt Dick und Jane aufisst!
Da könnte man sich sicher das eine oder andere einfallen lassen.
Lors Hand bedeckte Talias. »Dürfen wir das denn?«
Sie bemerkte, wie Mina auf ihre Hände sah, und zog ihre rasch weg. »Klar! Es ist eine Menge Papierkram, aber grundsätzlich darf jeder eine Privatschule gründen. Ich kann euch dabei helfen.«
Lor beobachtete sie interessiert. Allein seine Aufmerksamkeit bewirkte, dass Talias Mund trocken wurde, und das wiederum machte sie vorsichtig.
»Einfach so?«, fragte er ungläubig.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr könntet die Gründung sogar zum Wahlkampfthema machen.«
Lor kniff die Augen ein wenig zusammen, als würde er diese Möglichkeiten abwägen.
Mina hingegen sah kreuzunglücklich aus. Der alten Frau stand ins Gesicht geschrieben, dass sie Lor allein für die Höllenhunde wollte, nicht in den Fängen einer Vampirbraut. Und Talia bezweifelte, dass ihre Zeugnisse die alte Frau und Mavritte beeindrucken würden. Jedwede Form von langfristiger Beziehung zu ihrem Alpha, und wäre es eine rein geschäftliche, würde Ärger im Rudel provozieren.
Bei diesem Gedanken wurde ihr Innerstes zu Stein, doch gleichzeitig regte sich ihr Trotz.
Ich habe einen Master in Pädagogik, und hier geht es um die Kinder!
Lors Handy bimmelte. Er klappte es auf. »Hi, Bevan.«
Mina schenkte Tee ein und schob Talia stumm eine Tasse hin. Aus Höflichkeit nahm sie einen winzigen Schluck. Es war kein Blut, aber sie bekam ein bisschen heiße Flüssigkeit hinunter, ohne dass ihr schlecht wurde. Lor ging mit dem Telefon nach nebenan. Ohne ihn kam Talia sich auf einmal merkwürdig
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