Höllenjagd
die Lager an den Pleuelstangen zu ölen, die vom Zylinderkolben zu den Treibrädern führten.
»Eine wirklich tolle Lokomotive«, sagte Bell bewundernd.
Der Lokomotivführer blickte auf. Er war kleiner als Bell, und Büschel graumelierten Haars standen unter seiner Mütze hervor. Sein Gesicht war wettergegerbt, nachdem er sich viele Male bei voller Fahrt aus dem Führerhausfenster gelehnt hatte. Die Brauen über den himmelblauen Augen waren gebogen und buschig. Bell schätzte, dass er jünger war, als er aussah.
»Adeline ist die Beste«, sagte der Lokomotivführer.
»Adeline?«
»Ist einfacher zu merken als die vierstellige Zahl. Die meisten Lokomotiven haben den Namen einer Frau.«
»Adeline sieht ziemlich kräftig aus«, sagte Bell respektvoll.
»Sie wurde für den Personenverkehr gebaut. Ist erst vor fünf Monaten aus dem Baldwin-Werk gekommen.«
»Wie schnell kann sie fahren?«, fragte Bell.
Der Lokomotivführer dachte einen Moment nach. »Auf einer geraden, frei befahrbaren Strecke kommt sie bestimmt auf über 160 Stundenkilometer.«
Er reichte dem Lokführer die Papiere. »Ich habe Ihre Lok für einen Sondereinsatz gemietet.«
Der Lokführer studierte die Papiere. »Oho, im Auftrag von Van Dorn. Was gibt es denn Besonderes?«
»Schon mal vom Schlächter gehört?«
»Wer nicht? Ich habe in den Zeitungen gelesen, dass er verdammt gefährlich ist.«
Bell hielt sich nicht mit Einzelheiten auf. »Wir verfolgen ihn. Er hat eine Lokomotive vom Typ Pacific gemietet, die seinen privaten Güterwaggon zieht. Er dampft gerade nach Salt Lake City, um dann weiter nach Norden zur kanadischen Grenze zu fahren. Ich schätze, er hat einen Vorsprung von fünf Stunden.«
»Eher sechs, bis wir Kohle gebunkert und genug Dampf haben.«
»Man hat mir gesagt, dass ein paar Reparaturen ausgeführt werden mussten. Sind sie fertig?«
Der Lokführer nickte. »Die Werkstatt hat ein kaputtes Lager in einem der Drehgestelle ausgewechselt.«
»Je schneller wir aufbrechen, desto besser.« Bell hielt inne und streckte eine Hand aus. »Übrigens, mein Name ist Isaac Bell.«
Der Lokführer schüttelte sie kräftig. »Nils Lofgren. Mein Heizer ist Marvin Long.«
Bell zog seine Uhr aus der Tasche. »Gut, dann treffe ich Sie in einer Dreiviertelstunde wieder.«
»Wir sind dann am Ladekai, wo wir die Kohle bunkern, ein Stück das Gleis hinauf.«
Bell eilte in Richtung Anlegestelle, bis er ein Gebäude erreichte, in dem sich das Büro der Western Union befand. Der Leiter der Telegrafenstelle teilte ihm mit, dass es nur eine Verbindung nach Salt Lake City gab und die Nachrichten bereits mit mehrstündiger Verzögerung verschickt wurden. Bell berichtete ihm von seinem Auftrag, und der Leiter war ausgesprochen kooperativ.
»Wie lautet die Nachricht?«, fragte er. »Ich sorge dafür, dass sie auf der Stelle an Ihr Büro in Salt Lake City gekabelt wird.«
In Bells Telegramm stand:
An den Büroleiter von Van Dorn, Salt Lake City. Unbedingt Lokomotive mit Güterwaggon Nr. 16455 aufhalten. Der Schlächter befindet sich darin. Treffen Sie sämtliche Sicherheitsvorkehrungen. Er ist extrem gefährlich. Verhaften und festhalten, bis ich komme.
Isaac Bell, Sonderagent
Er wartete, bis der Leiter die Nachricht telegrafiert hatte, verließ dann das Büro und ging zu der Stelle, wo Lofgren und Long Kohle bunkerten und Wasser tankten. Er kletterte zur Führerkabine hinauf und wurde Long vorgestellt, einem kräftigen, breitschultrigen Mann mit schweren Muskeln, über denen sich die Ärmel seines Baumwollhemds spannten. Er trug keine Kopfbedeckung, und sein Haar hatte beinahe die gleiche Farbe wie die Flammen in der Feuerkammer. Er zog einen Lederhandschuh aus und schüttelte Bells Hand. Seine war von den vielen Stunden, in denen er die Kohleschaufel geschwungen hatte, hart und schwielig.
»Von mir aus kann's losgehen«, verkündete Lofgren.
»Dann los!«, antwortete Bell.
Während Long das Feuer schürte, nahm Lofgren seinen Platz auf der rechten Seite des Führerhauses ein, löste die Bremsen, öffnete die Zylinderventile und zog zweimal am Seil der Dampfpfeife, um anzuzeigen, dass er losfuhr. Er betätigte den Johnson-Wender und zog am Dampfregler. Adeline setzte sich in Bewegung und fuhr langsam ein Stück zurück.
Zehn Minuten später erhielt Lofgren das Signal, dass sie auf das Hauptgleis in Richtung Osten wechseln konnten. Er schob den Dampfregler ein Stück zurück, und die große Atlantic beschleunigte. Langsam wand sich der Zug
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