Hoellennacht
nicht«, sagte Turtledove. » Es verstößt gegen das Gesetz, an einem Ort zu rauchen, wo Menschen arbeiten.«
» Ja, ich weiß«, meinte Nightingale.
Er steckte die Zigaretten wieder ein. » Wie ist er denn gestorben, dieser Gosling?«
» Das weiß ich nicht«, antwortete Turtledove. » Der Fall wurde mir von einem anderen Anwalt übertragen, einer Kanzlei in London. Man sagte mir, Mr. Gosling sei verstorben und ich solle das Testament vollstrecken.«
» Das ist ein bisschen ungewöhnlich, oder?«
» Sehr«, antwortete Turtledove. » Ich hatte nie mit Mr. Gosling zu tun, und ich bin ihm auch nie begegnet. Man hat mir einfach nur sein Testament und Ihre Daten geschickt und mich beauftragt, Sie als seinen einzigen Erben zu kontaktieren.«
» Aber ist es nicht normalerweise so, dass der Anwalt, der das Testament erstellt hat, auch den Nachlass verwaltet?«
» Natürlich«, antwortete Turtledove. » Aber da ich hier vor Ort wohne, hat man wohl angenommen, dass ich es dann näher zum Haus habe. Aber wie Sie schon sagten, es ist ungewöhnlich.«
» Haus? Was für ein Haus?«
Turtledove nahm das Testament aus der Akte und reichte es Nightingale. » Geld ist leider nicht viel vorhanden, aber es gibt eine nennenswerte Immobilie, einen Landsitz namens Gosling Manor. Er liegt etwa sechs Meilen von Hamdale entfernt.« Er zog eine Schublade auf und reichte Nightingale einen Schlüsselring mit zwei Schlüsseln daran. » Sie müssen hier noch einige Unterschriften leisten, und dann gehört alles Ihnen. Ich habe hier eine Landkarte, auf der das Haus markiert ist.«
» Geheimzahl für die Alarmanlage?«
» Es gibt wohl keine.«
Nightingale steckte Schlüssel und Landkarte in seine Manteltasche. » Sie sagten, es sei Bargeld vorhanden?«
» Ein paar hundert Pfund«, antwortete Turtledove. » Wir müssen das Haus schätzen lassen, für den Fall, dass es der Erbschaftssteuer unterliegt.«
» Sie meinen, ich muss dafür bezahlen?«
» Das hängt von seinem Wert ab. Aber wenn erst einmal eine Schätzung Ihrer Steuerschuld vorliegt, werden Sie die mit ziemlicher Sicherheit auch begleichen müssen. Der Tod und die Steuer sind die einzigen beiden Gewissheiten im Leben, wie Mark Twain einmal gesagt hat. Oder war es Benjamin Franklin?« Er führte die Hand zur Stirn. » Mein Gedächtnis ist einfach nicht mehr das, was es einmal war.«
» Sie wissen nicht, wie viel das Haus wert ist?«
Der Anwalt blickte Nightingale über seine Brille hinweg an. » Ich bin nur der Beauftragte, ich habe das Haus nicht selbst gesehen. Man hat mir einfach nur gesagt, dass es sich um eine bedeutende Immobilie handelt.«
» Mr. Turtledove, das alles ist sehr ungewöhnlich, oder?«
» Mr. Nightingale«, gab der Anwalt zurück. » So einen Fall hatte ich noch nie.«
5
Nightingale fuhr langsam die schmale Landstraße entlang. Der Himmel hatte sich zugezogen, während er im Büro des Anwalts gewesen war, und es hatte zu regnen begonnen. Die Scheibenwischer hinterließen beim Hin- und Herwischen fettige Streifen auf dem Glas. Er blickte auf die Landkarte hinunter, die Turtledove ihm gegeben hatte. Als er aufschaute, bog plötzlich ein Traktor vor ihm auf die Straße ein, und er machte eine Vollbremsung. Auf der nassen Straße griffen die Reifen nicht, und der Wagen schlitterte nach rechts. Nightingale brachte das Schleudern durch mehrmaliges Pumpen mit dem Bremspedal unter Kontrolle und kam schließlich nur wenige Zentimeter hinter dem Traktor zum Stehen. Der Fahrer trug Kopfhörer und nickte im Rhythmus zur Musik mit dem Kopf; ihm war gar nicht bewusst, dass er Nightingale um ein Haar ins Jenseits befördert hätte. Während Nightingale dasaß, die Hände aufs Steuerrad gelegt und mit hämmerndem Herzen, donnerte der Traktor davon, eine schwarze Rauchfahne hinter sich herziehend. Nightingale wurde bewusst, dass er unkonzentriert gefahren war. Er hatte zu angestrengt über seine Begegnung mit dem Anwalt nachgedacht.
Die Sache ergab keinen Sinn. Nightingale hatte nie den Verdacht gehegt, Bill und Irene Nightingale wären nicht seine richtigen Eltern. Selbst der Ausdruck » richtige Eltern« klang falsch. Natürlich waren sie seine richtigen Eltern. In jeder seiner Kindheitserinnerungen waren sie da– seine Mutter hatte ihn das Alphabet gelehrt, sein Vater hatte ihm das Fahrradfahren beigebracht, sie hatten geklatscht, wenn er die Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen ausblies, und da war der Stolz in ihren Gesichtern gewesen, als er ihnen sagte, er
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