Hoellennacht
einen Hinweis, wer meine richtige Mutter war.« Er lächelte traurig. » Das sage ich ständig. › Richtige Mutter‹. Als wäre Irene Nightingale eine Art Mogelpackung gewesen. Das war sie nicht. Sie war meine Mum, und sie wird immer meine Mum bleiben, was auch immer wir herausfinden.« Er schnippte Asche auf den Boden. » Solltest du nicht bei der Arbeit sein?«
» Spätschicht«, antwortete Hoyle.
» Möchtest du dich nützlich machen?«
» Deswegen bin ich hier.«
26
Nightingale fand Ainsley Goslings Finanzunterlagen in sechs Buchenholzaktenschränken zwischen einem Schaukasten und einer Seemannskiste mit einem Schloss, das im Laufe der Jahre verrostet war und sich nicht mehr öffnen ließ. Gosling hatte seine Unterlagen ordentlich aufbewahrt, und für jedes Vierteljahr bis zurück zum Jahr 1956 gab es einen eigenen Aktenordner. Nightingale zog die drei letzten Ordner heraus und brachte sie zu einem Schreibtisch, an dem Hoyle über einem ledergebundenen Buch mit Zeitungsausschnitten brütete. Er blickte auf. » Er hat sich für Serienmörder interessiert– Fred West, der Yorkshire Ripper und Harold Shipman. Er hat alle diese Fälle verfolgt.«
» Jeder sollte ein Hobby haben«, sagte Nightingale und legte die Aktenordner auf den Schreibtisch. » Das hier sind seine jüngsten Finanzunterlagen. Kannst du mal nachsehen, was er in den Monaten vor seinem Tod so getrieben hat?« Er ging zu den Aktenschränken zurück. Die Unterlagen für das Jahr, in dem er geboren worden war, befanden sich im dritten Schrank. Er zog vier Aktenordner heraus.
» Er hat im großen Stil Bücher gekauft«, berichtete Hoyle, der die Quittung eines Hamburger Buchladens hochhielt. » Im Januar hat er anderthalb Millionen Euro für ein Buch namens Der Formicarius bezahlt.«
» Anderthalb Millionen Euro für ein Buch? Kein Wunder, dass sein ganzes Geld weg ist.«
» Hier steht, dass es aus dem Jahr 1435 stammt. Aber das ist nur eine Quittung von vielen. Hier ist ein Beleg über sechshunderttausend Dollar und hier ein weiterer über eine Viertelmillion Pfund. Ein Stapel Quittungen aus China, die ich nicht lesen kann. Und wie es aussieht, handelten die Bücher alle von Hexerei oder Dämonenkunde. Von Okkultismus.« Hoyle zeigte auf die Bücherregale. » Dorthin ist sein ganzes Geld geflossen. Er hat Millionen für diese Bibliothek hier aufgewendet.«
Nightingale legte die Aktenordner auf den Schreibtisch. » Er hat keine Bibliothek aufgebaut. Er hat Informationen gekauft.«
» Ich kann dir nicht folgen«, meinte Hoyle.
» Die Bücher waren ihm egal, aber er wollte die Informationen, die sie enthalten.« Nightingale setzte sich in den ledernen Ohrensessel. » Ich glaube Folgendes: Er hat bei meiner Geburt einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen. Oder zumindest hat er geglaubt, dass er einen Vertrag geschlossen hätte.«
» Jack…«
Nightingale brachte seinen Freund mit erhobener Hand zum Schweigen. » Ob er das nun wirklich getan hat oder nicht, ist hier gar nicht das Thema. Entscheidend ist, wie die Sache in seinem Kopf aussah. Und nach seiner Meinung hatte er meine Seele verkauft. Dann hat er es sich, wie er auf der DVD ja sagte, anders überlegt. Er wollte den Vertrag rückgängig machen, aber dafür brauchte er Informationen.« Er zeigte auf die Bücherregale. » Er war der Meinung, dass die Antwort irgendwo in diesen Büchern zu finden ist.«
» Du willst doch nicht etwa sagen, dass du an diesen Hokuspokus glaubst, oder?«
» Ich versuche, mich in Gosling hineinzuversetzen«, antwortete Nightingale. » Ich versuche, so zu denken, wie er gedacht hat. Wenn ich mit seinem Kopf denken kann, kann ich mir vielleicht einen Reim auf das alles machen. Vielleicht kann ich dahinterkommen, warum er sich getötet hat.«
» Weshalb spielt das eine Rolle?«
» Er war mein Vater.«
» Nur dem Namen nach«, gab Hoyle zurück. » Du hast ihn doch gar nicht gekannt. Warum spielt das also eine Rolle? Und warum suchst du deine genetische Mutter?«
Nightingale antwortete nicht.
» Du glaubst, dass das alles stimmen könnte, oder?«, fragte Hoyle leise.
» Sei doch nicht albern«, sagte Nightingale.
» Du möchtest sie fragen, ob Ainsley Gosling deine Seele an den Teufel verkauft hat.«
Nightingale schüttelte den Kopf und schlug einen Aktenordner auf. Er war voller Kontoauszüge, gebrauchter Scheckbücher und Quittungen. » Ich glaube nicht, dass er meine Seele verkauft hat. Aber ich glaube, dass er selbst überzeugt war, das getan zu
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