Höllenschlund
dezenten Luxus, der sich sehr von der grellen Zurschaustellung von Extravaganz unterschied, die manche der moderneren Kähne im Hafen auszeichnete. »Ihr Name sagt alles – eine liebreizende Dame.«
»Das ist sie.«
»Ich weiß, dass es unhöflich ist, nach dem Alter einer Dame zu fragen, aber es würde mich schon interessieren, wann sie das Licht der Welt erblickt hat.«
»So leicht können Sie diese alte Dame nicht beleidigen, mein Freund. Sie weiß genau, dass sie noch genauso wunderschön ist wie an dem Tag, als sie im Jahre 1931 vom Stapel lief.«
Austin ließ den Blick über die schlanken Linien der Yacht gleiten. »Ich schätze, dass sie aus der Stephens-Werft in Kalifornien stammt.«
Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Das ist mehr als nur eine grobe Schätzung. Stephens hat sie für einen weniger bekannten Vanderbilt gebaut. Würden Sie gern an Bord kommen, um sie sich etwas genauer anzusehen, Mr. Austin?«
Austins Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Es konnte kein Zufall sein, dass Flagg ihn nicht weit von dieser Yacht abgesetzt hatte. Er lief über den kurzen Landungssteg, betrat das Deck und begrüßte den Mann, der sich als Elwood Nickerson vorstellte, mit einem Händedruck.
Nickerson war groß und drahtig und hatte den Körperbau eines Tennisspielers. Sein gebräuntes Gesicht wies verhältnismäßig wenige Falten auf, und er mochte in den Sechzigern oder Siebzigern sein. Er trug ausgebeulte braune Leinenshorts, abgetretene Boots und ein T-Shirt mit der Aufschrift
GEORGETOWN UNIVERSITY
, das sich kaum von einem alten Putztuch unterschied. Sein kurz geschnittenes weißes Haar, die manikürten Fingernägel und der leichte Privatschulakzent wiesen darauf hin, dass er kein echter Seebär war.
Er musterte Austin mit grauen Augen. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Austin. Vielen Dank, dass Sie vorbeischauen. Tut mir leid wegen der Mantel-und-Degen-Aktion.
Ich würde Ihnen gerne einen Barbancourt-Rum auf Eis anbieten, aber dazu ist es vermutlich noch zu früh.«
Nickerson kannte also Austins derzeitigen Lieblingsdrink.
Entweder hatte er in seinem Getränkeschrank herumgeschnüffelt oder sich Zugang zu seiner Personalakte verschafft.
»Es ist nie zu früh für einen guten Rum, aber ich würde mich mit einem Glas Wasser und einer Erklärung zufriedengeben«, sagte Austin.
»Das Wasser kann ich Ihnen sofort besorgen. Die Beantwortung Ihrer Frage wird etwas länger dauern.«
»Ich habe Zeit.«
Nickerson rief dem Kapitän der Yacht zu, dass sie zum Ablegen bereit waren. Der Kapitän warf den Motor an, während der Matrose die Leinen losmachte. Als das Boot auf den Fluss hinaus und dann stromabwärts fuhr, lud Nickerson seinen Gast in einen geräumigen Salon ein, der von einem rechteckigen Mahagonitisch beherrscht wurde, der ebenfalls spiegelblank gewienert war.
Nickerson forderte Austin auf, Platz zu nehmen. Dann holte er eine Flasche Quellwasser aus dem Kühlschrank und schenkte Austin ein Glas ein.
»Ich arbeite für das Nahostreferat des Außenministeriums, wo ich der Obermotz und das Mädchen für alles bin«, sagte Nickerson. »Dieses Treffen findet mit dem Segen meines Chefs statt. Der Außenminister hielt es für das Beste, selber vorläufig noch nicht involviert zu werden.«
»Sie haben in meiner Personalakte geblättert, was auf Befugnisse hindeutet, die weiter gehen, als es in Foggy Bottom üblich ist.«
Nickerson nickte. »Als wir das Weiße Haus auf diese Angelegenheit aufmerksam machten, schlug Vizepräsident Sandecker vor, wir sollten damit zu Ihrem Chef gehen. Direktor Pitt meinte nun, dass wir Sie damit belästigen dürfen.«
»Das ist sehr großzügig vom Direktor«, sagte Austin. Typisch Pitt, dachte er. Dirk legte stets großen Wert darauf, dass Entscheidungen auch von jenen getroffen wurden, die am meisten unter den Folgen zu leiden hatten.
Nickerson bemerkte die Ironie in Austins Erwiderung.
»Mr. Pitt war unseren Wünschen gegenüber sehr aufgeschlossen. Er hat großes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Es war meine Entscheidung, genauere Erkundigungen über Sie einzuziehen. Ich habe den Ruf, sehr vorsichtig zu sein.«
»Und sehr geheimnisvoll.«
»In Ihrer Akte heißt es unter anderem, dass sie keinen Smalltalk mögen. Also will ich gleich zur Sache kommen.
Vor zwei Tagen stattete Pieter DeVries von der NSA meinem Büro einen Besuch ab. DeVries ist der angesehenste Kryptoanalytiker der Welt. Er hat uns höchst überraschende Informationen zugänglich
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