Höllenstadt
Haut hinein, ln den Augen zeichnete sich die Panik ab. Sie stand dort wie eingefroren.
Martha merkte kaum, daß sie mit kleinen Schritten zurückging. Erst als sie dabei gegen die Kante der offenen Tür stieß, wurde es ihr bewußt, ln ihrem eigenen Körper lebte sie wie eine Fremde, und fremd war ihr auch die Umgebung geworden. Das Haus hatte sich in einen Eiskeller verwandelt, in dem sie selbst nicht mehr leben konnte.
Martha trat wieder in das Dunkel des Schlafzimmers hinein. Der Mond glotzte durch das Fenster. Sie selbst kam sich vor wie eine mondsüchtige Person, denn die Bewegungen wurden nicht mehr von ihrem Gehirn gesteuert. Alles lief automatisch ab.
Im Bad fand sie sich wieder. Das Licht füllte den Raum aus. Gnadenlos war der große, viereckige Spiegel. Er gab das Bild einer völlig verzweifelten Frau zurück, die an allen Stellen ihres Körpers zitterte und nicht mehr wußte, was sie tun sollte. Während der letzten Minuten war Martha Caine um Jahre gealtert. Mit beiden Händen klammerte sie sich am Rand des Waschbeckens fest.
Als hätte man ihr einen Befehl erteilt, so blieb sie stehen und starrte sich selbst an. Ihr Gesicht war naß. Die Haut zuckte. Die dunklen Augen hatten einen trüben Glanz bekommen.
Noch immer glaubte Martha Caine, neben sich zu stehen. Nur langsam erholte sie sich von dem Schock.
Martha war erst jetzt in der Lage, nachzuvollziehen, was eigentlich geschehen war. Sie und ihr Mann waren so stolz auf den Nachwuchs gewesen. Morton war ihr Sonnenschein gewesen – ja, gewesen, denn jetzt gab es ihn nicht mehr.
Man hatte ihn entführt. Man hatte ihn seinen Eltern brutal entrissen und gegen einen widerlichen Wechselbalg ausgetauscht.
Diese Erkenntnis war einfach zuviel für Martha. Dabei hatte sie Glück, daß ihre Hände noch den Rand des Waschbeckens umklammert hielten, denn die Beine gaben nach.
Sie kam gegen das Zittern in den Knien nicht an. Gleichzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, und sie sank vor dem Waschbecken zusammen. Die Erinnerung an das schreckliche Erlebnis war durch den gnädigen Schleier der Ohnmacht vorerst gelöscht worden…
***
Aber sie kehrte zurück, als Martha wieder erwachte!
Daß ihr kalt war, nahm sie kaum zur Kenntnis. Ihr Kopf war voller furchtbarer Erinnerungen an das Geschehen. Daran hatte auch die kurze Ohnmacht nichts ändern können. Martha Caine wußte genau, daß sie nicht lange in diesem Zustand verbracht hatte, und sie hatte sich auch nichts getan und körperlich keinen Schaden erlitten, als sie zusammengesackt war.
Sie lag vor dem Waschbecken auf dem Boden und atmete schwer. Das Muster der Kacheln verschwamm vor ihren Augen. Die Zunge lag pelzig im Mund; Durst quälte sie.
Es war still um sie herum. Nur in ihrem Kopf summte oder brummte es. Die Erinnerungen verschwammen. Irgend etwas in Marthas Unterbewußtsein wehrte sich dagegen. Was sie durchlitten hatte, war einfach zu grausam und unwahrscheinlich, als daß es bald verarbeitet werden konnte.
Die Kälte nahm zu, und Martha fühlte sich unwohler. Sie konnte nicht liegenbleiben. Aufraffen, sich erholen, stehen, vielleicht auch nachdenken, obwohl es ihr schwerfallen würde.
Mit einer unendlich müde erscheinenden Bewegung hob sie den rechten Arm an. Der Rand des Waschbeckens lag glücklicherweise nicht zu hoch. So konnte sie ihn umfassen und sich daran festhalten. Als sie sich daran hochzog, kam sie sich vor wie eine alte Frau. Sie keuchte, und ihre Augen waren längst feucht geworden.
Geschafft! Martha blieb vor dem Waschbecken stehen und wurde mit ihrem Spiegelbild konfrontiert. Erschreckt zuckte sie zusammen. War das noch die achtundzwanzigjährige Frau, die ihr da entgegenschaute? Sie sah alt aus, sehr alt. Das Gesicht eingefallen, die Haut grau, und das lag sicherlich nicht am Licht. Ränder unter den geröteten Augen. Spuren von Tränen an ihren Wangen, blasse, zittrige Lippen, die Haut dünn wie Papier.
Martha schüttelte den Kopf. Ihr wurde übel. Sie atmete durch den offenen Mund, bekam sich wieder unter Kontrolle und spürte, daß sie etwas tun mußte. Ein flüchtiger Gedanke galt ihrem Mann Dick, der im Moment irgendwo mit einem Güterzug unterwegs und nicht zu erreichen war. Er würde erst in einigen Stunden eintreffen.
Sie drehte sich um. Dabei fiel ihr Blick gegen das Fenster. Es war noch immer dunkel draußen. Ein Vorbote der Morgendämmerung schimmerte hinter der Scheibe. Am Himmel sah sie den kalten Mond stehen wie eine vergessene Laterne.
Der Blick nach draußen
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