Hörig (German Edition)
Gittern ausließ. Es dauerte nicht lange, dann kamen auch die ersten zustimmenden Gesten und Bemerkungen. Ein Kopfschütteln oder Nicken, ein gehauchter Kommentar.
Seine Erkenntnis änderte nichts an Edmunds Vorgehensweise. Er kam nur schneller zu Teil zwei. Weil sich die Methode des Vorlesens bewährt hatte, machte er damit weiter – allerdings ohne schönfärberische Anmerkungen. Da blieben die Gesten und Kommentare wieder aus. Wie zu Anfang saß sie vorne auf der Sesselkante, allerdings wirkte sie nicht mehr apathisch. Manchmal war nur ihr Gesicht, manchmal ihr gesamter Körper in Aufruhr.
Als Edmund zu Beginn der achtzehnten Stunde erneut den dicken Ordner vom Beistelltisch nahm, spannten sich ihre Schultern an. Und obwohl er sie nicht aus den Augen ließ, kam ihr Ausbruch für ihn überraschend.
Sie kreischte unvermittelt los: «Tun Sie das weg! Tun Sie das weg! Ich will nichts mehr davon hören!» Ihre Stimme überschlug sich. Es sah so aus, als wolle sie aufspringen.
Dann sackte sie wieder in sich zusammen, ließ den Kopf hängen, das Kinn sank ihr fast auf die Brust. «Ich kann nicht mehr», murmelte sie stockend, schüttelte den Kopf, hielt ihn gesenkt, wiederholte den Satz noch einmal, etwas lauter und verständlicher: «Ich kann nicht mehr.» Ihr Kopf ruckte wieder in die Höhe, sie schrie erneut: «Tun Sie das weg! Tun Sie das weg, verdammt! Ich will das nicht mehr hören. Ich kann das nicht mehr hören.»
«Sie müssen es nicht hören, Patrizia», erklärte Edmund. «Niemand kann Sie dazu zwingen.»
«Und was tun Sie die ganze Zeit?», fauchte sie ihn an wie eine tollwütige Katze. «Erzählen mir zuerst stundenlang, was für ein guter Mensch Heiko wirklich ist und wie sehr er mich liebt. Und dann machen Sie es genauso wie mein Vater und behaupten, Heiko sei ein Schwein. Und ich muss hier sitzen und mir das anhören. Meinen Sie, ich finde das gut?»
Kratzbürstig fand er sie und hielt es für einen guten Anfang. Aber ihr Aufbegehren währte nicht lange. Sie senkte den Kopf erneut und betrachtete ihre Hände im Schoß. «Wir hätten das nicht tun dürfen», murmelte sie. «Es war nicht richtig.»
Als sie weitersprach, klang es nur im ersten Moment, als sei sie durchaus noch in der Lage, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Für das Aufzeichnungsgerät sprach sie zu leise, und Edmund hatte Mühe, sie zu verstehen.
«Es war nicht richtig», wiederholte sie. «Kein Mensch ist es wert, dass ein anderer so etwas für ihn tut.»
Edmund glaubte nur zwei Sekunden lang, sie sei wohl doch endlich bereit, sich mit Schramms wahrem Wesen auseinanderzusetzen und ihre eigene Rolle in der Tragödie zu akzeptieren. Sie belehrte ihn rasch eines Besseren.
«Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wir hätten uns nie getroffen. Heiko hätte irgendwann ein anderes Mädchen kennengelernt und wäre glücklich geworden. Ich habe ihm nur Unglück gebracht. Jetzt ist er eingesperrt, und ich kann ihn nicht mehr fühlen.»
Bis dahin hatte sie mit gesenktem Kopf gesprochen, nun hob sie den Blick, schaute Edmund an und wiederholte auch den Satz noch einmal, es war eher ein Wimmern: «Ich kann ihn nicht mehr fühlen. Aber ich brauche ihn. Ich brauche ihn so sehr. Als er in Untersuchungshaft saß, war noch alles in Ordnung. Es war wirklich kein Unterschied, ob er nun draußen vor dem Fenster stand oder weiter weg in einer Zelle lag. Er dachte an mich und war immer bei mir, Tag und Nacht. Und jetzt ist er weg.»
Kein Wort von dem liebenswürdigen älteren Mann, den sie verehrt hatte. Vermutlich dachte sie nicht einmal an Albert Retling. Unvermittelt begann sie zu weinen. Es war ein seltsames Weinen, ganz ohne Ton, nur still und nass. Ihre Augen wirkten hinter dem Tränenfilm viel größer, ihre Lippen zitterten, als sie noch einmal hervorstieß: «Ich fühle ihn nicht mehr!»
«Was schließen Sie daraus, Patrizia?», fragte Edmund endlich.
Sie hob die Achseln und ließ sie wieder sinken.
«Glauben Sie, dass Heiko nicht mehr an Sie denkt? Meinen Sie, er hat bei der Polizei und vor Gericht die Wahrheit gesagt? Dass sein Komplize und er nur die Steine und das Gold haben wollten?»
Sie antwortete nicht sofort. Ihre Finger zupften an einem losen Fadenende in der Steppnaht ihrer Jeans. Nach einer Weile schüttelte sie erneut den Kopf. «Heiko wollte keine Steine», murmelte sie. «Er wollte nur ein bisschen Geld, damit wir zusammen weggehen können. Vielleicht ist er schon vorausgegangen nach Kanada oder
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