Hörig (German Edition)
dass er unendlich stolz auf sie sei. Und dass er Angst gehabt hätte, fürchterliche Angst um sie, als er erkannte, welch ein Risiko sie auf sich genommen hatte, um Albert und Alwine Retling zu helfen. Natürlich verstand Ed, dass sie es hatte tun müssen, dass sie gar keine andere Wahl gehabt hatte, als Heiko so beiläufig erwähnte, wo sein Kumpel sich aufhielt.
Manchmal schaute sie zur Tür, dann wieder auf ihre Armbanduhr, einmal kroch die Zeit, ein andermal schien sie zu rasen. Kurz vor drei hätte sie dringend zur Toilette gehen müssen, aber sie traute sich nicht. Nur nicht unnötig auf sich aufmerksam machen und nichts provozieren.
Als sie feststellte, dass es fast vier Uhr war, begann ihr Herz zu holpern und zu stolpern. Ihr gesamter Körper spannte sich an, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Jetzt ging es nicht mehr anders. Sie musste die Tür öffnen, um zu hören, was oben vorging, und notfalls irgendwie eingreifen zu können.
Es kostete sie große Überwindung, hinzugehen und die Klinke niederzudrücken. Das Knacken klang in ihren Ohren wie ein Schuss. Aber dann war die Tür offen. Die Treppe lag vor ihr. Und eine wahre Flut von Geräuschen drang von oben zu ihr. Um das Knacken der Klinke hätte sie sich keine Sorgen machen müssen. Das konnten die da oben unmöglich gehört haben.
Der Fernseher lief. Es musste der Fernsehton sein. Den Lauten nach zu schließen, schaute der Fettwanst sich eine Sendung für Kinder an. Heiko vertrieb sich mit so etwas garantiert nicht die Zeit. Radaumusik, quiekende Stimmen, es klang nach einem Zeichentrickfilm. Dazwischen hörte sie die Stimme des Dicken, die trotz des Lärms gut zu verstehen war. Er führte sich auf wie ein Kleinkind. «Ja, ja, mach mal, mach mal, immer drauf», feuerte er Filmfigürchen an und ahmte deren Quieken nach.
Gleich anschließend hörte sie Heikos Stimme – bedeutend lauter. Er musste ihr näher sein als der Dicke, der höchstwahrscheinlich im Wohnzimmer saß. Heiko stand demnach in der Diele. «Jetzt hör endlich auf mit dem Scheiß», verlangte er unwillig. «Das nervt, verdammt.»
Ob ihm das Knacken des Türschlosses doch nicht entgangen war? Schaute er jetzt etwa über die hüfthohe Mauer auf die Treppe? Mehr als Stufen konnte er kaum sehen. Wahrscheinlich lauschte er, ob sich im Keller etwas tat. Hinauf konnte sie jedenfalls nicht, wenn Heiko in der Diele stand.
Er sagte noch etwas, was sie nicht verstand, weil der Gedanke an ihren Koffer sie kurz ablenkte. Als sie wieder aufmerksam horchte, hörte sie nur noch: «… hast du nachher noch Gelegenheit, deine Künste zu zeigen.»
Der Dicke lachte so fettig und schmierig, wie er aussah. Im selben Moment überfiel sie das Zittern.
Deine Künste?
Was meinte Heiko damit? Dieses ekelhafte Lachen sagte eigentlich genug. Es war ebenso scheußlich und genießerisch wie das Grinsen des Dicken und die Art, wie er sich die Lippen geleckt hatte.
Mit dem Zittern schossen die Tränen hoch. Sie schlich hinüber zum Waschraum, öffnete die Tür, schloss sie gleich wieder hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dabei spürte sie den Schlüssel im Schloss und erlaubte sich ein winziges Aufatmen. Behutsam drehte sie den Schlüssel um, ging zum Becken, wusch sich die Hände und das Gesicht mit kaltem Wasser. Danach musste sie unbedingt auf die Toilette. Anschließend wusch sie sich noch einmal die Hände. Am liebsten wäre sie geblieben, hätte sich in eine Ecke gesetzt und abgewartet.
Zehn nach vier. War Ed schon daheim, oder kam er jetzt bald zur Tür herein? Der Gedanke an ihren Mann trieb sie wieder zurück in den Gang und zur Werkstatt hinüber. Sie schloss die Tür nicht mehr hinter sich, horchte lieber nach oben. Den Fernseher hatte Heiko offenbar ausgeschaltet oder den Fettwanst dazu veranlasst. Jedenfalls war der Radau verstummt.
Sie hörte wieder Heikos Stimme, verstand jedoch nicht, was er sagte, weil er nicht laut genug sprach. Und plötzlich fragte eine Frau: «Kann ich ins Bad?» Alwine Retling! Sie hörte bloß den einen Satz und den auch noch gedämpft, trotzdem war sie absolut sicher und musste eine Hand vor den Mund pressen, um nicht loszuweinen vor Erleichterung.
In ihr mühsam unterdrücktes Schluchzen hinein sagte Heiko: «Ist okay.»
Ist okay, dachte sie und ließ das stoßweise Aufatmen in die hohle Hand entweichen. Ist okay! Ist okay! Alwine Retling ging es anscheinend gut, und wenn es ihr gutging, konnte es Albert Retling nicht schlechter
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