Hörig (German Edition)
Brasilien. Er hat mir versprochen, dass wir dorthin gehen, eines Tages, wenn er wieder frei ist.»
So wie sie es ausdrückte, klang es, als habe sie nach seiner Festnahme noch einmal mit Schramm sprechen können. Edmund wusste, dass dem nicht so gewesen war. Bis auf die Minute nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal war sie nicht mehr in Schramms Nähe gekommen.
Wenn er wieder frei ist.
Edmund dachte bereits, er habe sie missverstanden, weil sie so leise sprach. Da flüsterte sie: «Er hat gesagt, ich muss tapfer sein und geduldig, auch wenn es sehr lange dauert. Aber ich kann das nicht, nicht sieben Jahre.»
«Ich kann Ihnen dabei helfen, Patrizia», erklärte Edmund ruhig und legte endlich den dicken Ordner zurück auf den Beistelltisch. Dann beugte er sich ein wenig vor, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. «Sie müssen nur wollen, dass ich Ihnen helfe. Wollen Sie das? Wollen Sie es schaffen, diese sieben Jahre durchzustehen?»
Sie nickte.
Er lächelte sie zuversichtlich an. «Möchten Sie mir von den letzten Wochen mit Heiko erzählen, damit ich mir ein besseres Bild von ihm machen kann?»
Wieder nickte sie. Dann berichtete sie stockend und von vielen Pausen unterbrochen, wie es gewesen war in den letzten Tagen vor dem Überfall. Worüber sie gesprochen hatten während der Fahrten in Bus und Straßenbahn.
Edmund wurde rasch klar, dass Schramm ihr die Schlüssel zu Retlings Haus wirklich nicht aus der Tasche hatte stehlen müssen. Er hatte sie deswegen nicht einmal sonderlich bedrängen müssen, ihr nur wiederholt ihre derzeitige Situation vor Augen gehalten. Morgens zusammen mit vielen anderen in öffentliche Verkehrsmittel gepfercht. Viehtransporte hatte Schramm diese Fahrten genannt. Und Abende an einer zugigen Straßenecke, während das Liebste, das er auf Erden hatte, für ihn unerreichbar wenige Meter entfernt im Bett lag und nicht mal ans Fenster treten durfte.
Danach hatte er ihr jedes Mal beschrieben, wie die Freiheit für sie beide aussähe. Keiner mehr da, der Vorschriften machte, keiner, der ihr verbot, mit ihm glücklich zu sein. Man bräuchte nur ein bisschen Geld für die Flucht nach Kanada oder Brasilien, wo es noch diese riesigen, unberührten Wälder gab, die in ein paar Hundert Millionen Jahren wohl auch zu Steinen geworden waren, die sich irgendeine reiche Tussi um den Hals hängen wollte.
Zwei benutzte Tassen, ein Cognacschwenker, die beiden filterlosen Kippen auf dem Blumenuntersetzer und dieses verdammte Foto, das mehr sagte als tausend Worte.
Es war ohne Zweifel Patrizias Handschrift auf dem Rand. Die Worte waren mit einem billigen Kugelschreiber hingeschmiert, der obere Bogen des ersten Buchstabens völlig mit Tinte ausgefüllt. War es zu viel Mühe gewesen, sich ein vernünftiges Schreibgerät aus dem Arbeitszimmer zu holen? Unsinn, so etwas überhaupt zu denken! Wahrscheinlich hatte Schramm ihr den Kugelschreiber in die Finger gedrückt und sie gezwungen …
Warum?
Was für einen Grund hatte dieses Scheusal, sie nach all den Jahren erneut zu belästigen? Die große Liebe? Von wegen! Schramm wusste doch nicht einmal, wie man das Wort Liebe buchstabierte. Der war aus einem anderen Grund gekommen, darauf hätte Edmund jeden Schwur geleistet.
Allmählich bekam er seine Gedanken in den Griff. Patrizia hatte dem Scheusal einen Cognac angeboten und Kaffee mit ihm getrunken. Um Zeit zu gewinnen, warum sonst! Um die passenden Argumente zu finden und ihn davon zu überzeugen, dass er wieder aus ihrem Leben verschwinden musste. Sie war kein kleines Mädchen mehr, dem man mit einem bisschen süßen Schmus das Gehirn vernebeln konnte. Sie war eine erwachsene Frau, die gelernt hatte, die damaligen Ereignisse mit den Augen der Vernunft zu betrachten – hauptsächlich mit den Augen ihres Therapeuten. Aber das spielte jetzt wohl keine Rolle. Eine junge Frau, die ein bestimmtes Kapitel ihres Lebens am liebsten ungeschrieben gemacht hätte. Glücklich verheiratet mit einem Mann, den sie liebte, von dem sie geliebt wurde, der ihr ein angenehmes und sorgenfreies Leben bieten konnte, der …
Es war nicht viel Bargeld im Haus, nur die zweihundert Euro für den Klempner, der sein Geld bar auf die Hand haben wollte – aber gegen Rechnung. Seit dem Rohrbruch letztes Jahr hatten sie andauernd Probleme mit den Wasserleitungen. Und Patrizias Schmuck …
Edmund stürzte in die Diele und hastete die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Die kleine Stahlkassette in seinem Schreibtisch war
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