Hörig (German Edition)
nicht Psychologie studiert haben, um erklären zu können, was Schramm zu diesem Besuch veranlasst hatte, das drängte sich einem doch förmlich auf. Wut, Rachegelüste, die Bestrafung des Ungehorsams.
Als Edmund das Brennen im Rachen und das Zittern der Nasenflügel spürte, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihm die Tränen kamen, riss er den Papierfetzen unter dem Blumenuntersetzer heraus, faltete ihn im Hinausgehen zusammen, steckte ihn mechanisch in die Hosentasche und verließ das Haus.
Edmund tat, was seiner Meinung nach jeder Bürger tun sollte, dessen Frau sich in der Gewalt eines gewissenlosen und brutalen Schwerverbrechers befand: Er fuhr zur Polizei. Sich in dieser Situation erst noch mit Schwiegervater und Schwägerin auseinanderzusetzen und Patrizias Verbleib zu erörtern wäre die reinste Zeitverschwendung, meinte er. Und Zeit hatte er keine zu verschwenden.
Deshalb fuhr er auch nicht zur nächstgelegenen Wache. Wie sollte er einem Ahnungslosen in Uniform begreiflich machen, was jetzt getan werden musste? Im Präsidium hoffte er auf Menschen zu treffen, die gegen Schramm ermittelt hatten, mit dem Fall Retling vertraut waren und um Rasputins Skrupellosigkeit wussten.
Leider erinnerte er sich nicht an die Namen der damals zuständigen Kriminalbeamten. Und jetzt fühlte sich niemand zuständig, niemand nahm ihn ernst. Eine Entführung? Lächerlich! Eine erwachsene Frau und ihr ehemaliger Liebhaber hatten sich gemeinsam abgesetzt. Dieser Zeitungsfetzen und das Geschmiere am Rand waren ja wohl deutlich genug.
Ein Beamter in mittleren Jahren erbarmte und erinnerte sich schließlich auch daran, wer im Fall Retling die Ermittlungen geleitet hatte. Er reichte Edmund weiter an einen behäbig wirkenden Mann in den Fünfzigern mit Namen Kleiber.
Dem äußeren Anschein nach war Kleiber ein geduldiger Zuhörer. Die erste Hälfte von Edmunds Bericht hörte er sich jedenfalls an, ohne eine Miene zu verziehen. Als er ihn zum ersten Mal unterbrach, kam keine Zustimmung, auch keine Beschwichtigung, nur ein «Jetzt nehmen Sie doch erst mal Platz, Herr Bracht».
Kleiber wies auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch, lächelte aufmunternd und nickte dabei. Dann betrachtete er ausgiebig den Zeitungsausschnitt. «Wie die Zeit vergeht», meinte er. «Hat der die sieben Jahre überhaupt schon abgesessen?»
Er ließ einen Laut folgen, von dem Edmund nicht wusste, ob es ein Lachen oder ein Ausdruck von Missbilligung sein sollte. Dann kam noch ein Seufzer. «Und Sie vermuten, Schramm hat sich bei Ihrer Frau gemeldet?»
Edmund konnte nur noch nicken. Seine Vermutungen hatte er nun wirklich lang und breit und in aller Ausführlichkeit, einschließlich einiger Gedankengänge, geschildert. Er nickte allerdings auch, als Kleiber sich erkundigte, ob er alle anderen Möglichkeiten, Verwandte, Bekannte, Freunde und so weiter bereits abgefragt hatte. Ihm war immer noch so fürchterlich heiß, dass er nicht in gewohnten Bahnen denken konnte. Nur diesen einen Satz, der sich wie ein Kreisel in einem Hirn drehte und die Hitze erzeugte: Wenn dieses Schwein sie anrührt …
Kleiber meldete Zweifel an. «Ich glaube nicht, dass Schramm schon wieder draußen ist. Da wären wir benachrichtigt worden.» Begleitet wurden diese Worte von einem zuversichtlichen und aufmunternden Lächeln, das Edmund wahrscheinlich beruhigen sollte, es aber nicht tat.
Im Laufe seiner Dienstjahre hatte Kleiber viel über Menschen gelernt. Jedenfalls schien er zu wissen, dass ihm da jemand auf glühenden Kohlen gegenübersaß. «Aber keine Sorge», erklärte er. «Das finden wir schnell raus.» Damit begann er, die vor ihm auf dem Schreibtisch stehende Computertastatur zu bearbeiten.
Jetzt sprach er bereits im Plural.
Mach dich zu ihren Verbündeten, zeig ihnen, dass du auf ihrer Seite bist. Das hilft ihnen über den ersten Schock hinweg und flößt ihnen Vertrauen ein.
Edmund kannte die Tricks, er kannte sie alle. Aber verdammt, hier ging es um Patrizia, seine Frau, sein Werk. Er war sich durchaus bewusst, welchen Eindruck er machte. Ein betrogener, verlassener, höchstwahrscheinlich rasend eifersüchtiger Ehemann, der an seinem Nebenbuhler kein gutes Haar finden konnte.
Aber an Schramm gab es nun mal kein gutes Haar. Man musste nur einen Blick in die Anklageschrift werfen, um das zu begreifen. Dieser betuliche Klotz hinter dem Schreibtisch musste die Gerichtsunterlagen doch ebenfalls kennen, auch das ärztliche Gutachten. Albert Retlings Verletzungen lasen
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