Hörig (German Edition)
schlanken Finger, ihr Lächeln, als sie die Schnipsel auf den Boden fallen ließ. Und wie sie sich aus dem Sessel erhob, zur Tür ging und bewusst auf die verstreuten Fetzen trat. Bei der Tür drehte sie sich noch einmal um, zeigte immer noch lächelnd auf das zerrissene Papier.
«Ungeziefer muss man zertreten, nicht wahr?», fragte sie. Und als er nickte, fügte sie hinzu: «Ich glaube, wenn Heiko mir jetzt auf der Straße begegnen würde, ich könnte ihn anspucken. Vielleicht könnte ich ihn sogar töten.»
Töten, hallte es in Edmunds Kopf nach, ohne dass es ihm richtig bewusst wurde. Der Zeitungsfetzen auf dem Küchentisch konnte theoretisch nicht mehr existieren. Aber es hatte damals wohl mehr als eine Zeitung gegeben, in der das Foto erschienen war. Und mehr als eine Person, die ein Interesse daran hatte, eine Aufnahme der letzten, innigen Umarmung als Erinnerung aufzubewahren.
Das vergilbte, fleckige Papier rund um das Foto schien sich vor Edmunds Augen aufzulösen. Er sah nur noch das eng umschlungene Paar. Die wenigen Worte, die auf den Rand geschrieben waren, wollten nicht so richtig durch seine Augen ins Hirn.
Es tut mir leid, Ed.
Es dauerte bestimmt zwei oder drei Minuten, ehe er den Sinn dieser Botschaft erfasste. Und das konnte einfach nicht sein! Das nicht! Aber es war auch kein übler Scherz. Patrizia neigte nicht zu dieser Art von Humor. Und wo sollte sie diesen Fetzen heute noch aufgetrieben haben? Es war außerdem eine einfache Rechnung. Das Foto war im August vor sieben Jahren gemacht worden. Jetzt war September, Schramm hatte seine Zeit abgesessen.
Es tut mir leid, Ed!
Es war wie ein Schlag in die Magengrube. In seinem Hinterkopf sprach Paul davon, dass man Patrizia nicht von Schramms Liebe überzeugen müsse. Paul hatte diese Vorgehensweise damals für einen Fehler gehalten.
Schon in der letzten Probestunde hatte Edmund begonnen, den Eindruck zu mildern, den Paul seiner Jüngsten aufgedrängt hatte. Er las Patrizia ebenfalls aus den Vernehmungsprotokollen vor, wie ihr Vater es wochenlang getan hatte. Allerdings hatte Edmund ein paar relativ harmlose Stellen herausgesucht. Kein Wort von Gewalt, wann immer der Name Retling auftauchte, umging er diese Passage mit ein paar eigenen Worten. Satz für Satz fügte er das Bild wieder zusammen, das sie seiner Einschätzung nach ursprünglich von Schramm gehabt hatte.
Heiko Schramm, der edle Ritter. Der sich unglückseligerweise von einem geldgierigen Freund überreden ließ, eine Dummheit zu machen. Der vermutlich gehofft hatte, auf die Weise etwas Geld für eine glückliche Zukunft mit der Liebe seines Lebens zu erhalten. Leider war der tolle Plan gescheitert.
Nun musste der edle Ritter darauf vertrauen, dass die holde Maid, die er mehr liebte als sich selbst, ihn gut genug kannte, um genau zu wissen, wie viele von den Worten, die er im Polizeiverhör und bei Gericht ausgesprochen hatte, den Tatsachen entsprachen: nämlich kein einziges.
Patrizia ließ nicht erkennen, ob sie Edmund überhaupt zuhörte. Einmal meinte er zwar, die Andeutung eines zärtlichen Lächelns auf ihrem Gesicht zu sehen. Doch das konnte auch eine optische Täuschung sein, vielleicht ein Lichtreflex.
Kein Zugang zur Patientin, notierte er anschließend wieder, erklärte sich aber trotzdem bereit, ihre Behandlung zu übernehmen. Zum einen hatte ihn der Ehrgeiz gepackt, er fühlte sich persönlich herausgefordert von diesem Rasputin, der auf dem Zeitungsfoto so siegessicher den einen Arm hochreckte, während er mit dem anderen seine menschliche Beute an sich presste, als wolle er der Welt zurufen: «Seht her, was ich kann.» Den Kerl musste doch jemand in die Schranken weisen und ihm seine Beute entreißen.
Zum anderen tat Patrizia ihm leid. Schuldig geworden, weil sie gerne träumte. Weil sie sich einen Stein für die Fensterbank wünschte und den schwarzen Mann traf, der vorgab, an Träume zu glauben, und versprach, einen der schönen Träume zu erfüllen. Und nun war der Mann weg, und der Traum war weg und die Steine ebenso.
Aber Edmund brauchte sich nicht lange darum zu bemühen, das Bild wieder aufzubauen, das sie monatelang von Schramm gesehen hatte. Ihr Vater und ein Richter hatten es wirklich nicht zerstören können. Nur angekratzt und mit Dreck beworfen hatten sie es, das signalisierte ihm ihr Lächeln. Es war wohl doch keine Sinnestäuschung gewesen, wurde von Therapiestunde zu Therapiestunde intensiver, wenn Edmund sich über den armen, edlen Ritter hinter
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