Hoerig
Schweigen. In dem Moment bist du vor mir zurückgewichen, sicher aus demselben Grund, du hast dich so brüsk erhoben, daß du Oreo von deinem Schreibtischstuhl verscheucht hast. Ich wollte dir nicht in die Augen schauen und betrachtete statt dessen deine Füße. Der Schrei zog eine unübertret-bare Grenze zwischen uns, die Abschiedsstunde in unserer Geschichte hatte geschlagen. Du hast Dinge wiederholt, die du bereits unter anderen Umständen gesagt hattest, und ich bin in dem Wissen von dir fortgegangen, daß wir niemals wieder miteinander sprechen werden.
Heute sollst du wissen, daß ich in alles, was ich nach der Trennung tat, etwas von dir hineingelegt habe, in die Internetpornos zum Beispiel, die mich seitdem begleitet haben, und in meine Besuche im Cinema L’Amour; und mich zu töten, auch das sollst du wissen, ist eine Weise, das Gewicht Frankreichs zu bezwingen, das du mir aufgeladen hast.
Wenn es um dir wohlbekannte Dinge ging, hast du laut und mit französischem Akzent gesprochen, deshalb habe ich alles behalten. Wenn du mich am Nacken gepackt hast, lag dir mein ganzes Leben zu Füßen, deshalb bin ich dir auch nach deinem Abgang hinterhergelaufen. Du hattest kosmische Kräfte, die die Welt um dich herum beeinflußt haben, aber du hast sie nicht bemerkt, weil dein Vater nichts anderes kannte. Wenn ich an deinen Vater denke, denke ich auch an deine Mutter, die deine ganze Größe austragen und vielleicht daran leiden mußte, als du nach neun Monaten Schwangerschaft, in der du die Grenzen des Raums, der einem menschlichen Körper zusteht, durchbrachst und vielleicht schon zu bestimmt mit deinen Riesenschritten aus ihr hervorgingst, womöglich von Sturmböen umtost. Vielleicht hast du mit deinem entschlossenen, dunklen Blick auch Arzt und Kranken-schwestern aus dem Raum vertrieben, so daß du dir selbst überlassen bliebst. Dabei fällt mir ein, daß deine Mutter auch über eins achtzig groß war, ja, in deiner Familie waren alle so groß, ich wüßte gern, ob man durch schiere Größe zu einer erhabenen Weltsicht gelangt, in dem Fall wirst du dich bücken müssen, um mich zu verstehen. Die Chancen, daß du diesen Brief bekommst, sind ohnehin minimal, weil ich nicht daran denke, ihn dir an dein Outlook zu schicken, da ist mir noch Flaschenpost lieber, die findet womöglich ein anderer auf dem Plateau und hält die Schrift für die seiner Ex, weil die Verflossenen einander oft darin ähneln, daß sie lästig sind.
Das Ende naht, wenn man sich nur noch selbst sabotiert und an der Sommersonne leidet, weil sie keine Rücksicht auf die eigenen Zustände nimmt. Letztes Frühjahr hat mich das schöne Wetter geärgert, weil ich dachte, dir geht es gut, im Frühjahr ging es dir immer gut, du warst jeden Abend unterwegs, um Leute zu treffen, das Frühjahr war für dich die Zeit der Liebe. Du hast nie gewußt, in welchem Sternzeichen ich geboren bin, du hast immer gespottet, wenn Menschen ihre Liebe vom Sternzeichen des anderen abhängig machten oder, noch schlimmer, ihre beruflichen Kontakte. So etwas war für dich Weiber-kram, magisches Denken im Zusammenhang mit Zahlen und Geburtsdaten war etwas für Mädchen, sie kommen ja auch von der Venus, sagtest du einmal zum Spaß. Dennoch wäre unsere Geschichte nicht anders verlaufen, hättest du mein Sternzeichen gekannt. Die großen Prophezeiungen erfüllen sich erst im Lauf der Jahrhunderte, die den großen Prophezeiungen folgen, sie lassen sich nur rückwärts lesen und zeigen sich erst im nachhinein, im
»Ach, das war es also!«. Wenn ich tot bin, wird vielleicht jemand diesen Brief lesen und darin eine Prophezeiung sehen.
Ich habe ein paar Jahre gebraucht, bevor ich begriffen habe, daß ich wirklich in die Linie meines Großvaters gehöre. Als wir uns liebten, als zwischen uns noch alles in Ordnung war, wurde ich krank und fing an, Visionen zu haben. Wäre ich irgendein anderes Tier, wäre ich schon längst in Ruhe krepiert, Tiere haben manchmal mehr Herz als die Menschen und keine Mittel, die Toten wieder zum Leben zu erwecken. Heutzutage sind Kinder für alles mögliche da, vor allem dafür, die Enttäuschun-gen der Erwachsenen zu tragen, sie entwickeln auch hunderte Allergien, nur um damit vor dem Niedergang der eigenen Gene zu warnen. Meine Familie war katho-lisch, doch all meine Nachbarn dachten anders, sie meinten, nur die Verlierer dieser Welt inszenierten die Nieder-lage der anderen; meine Nachbarn machten nicht so ein Gedöns um das Leben, sie strebten
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