Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
Vom Netzwerk:
nicht durch die Hintertür herein-kommen sehen. Aus Gründen der Energieersparnis und des Lebensstandards müßten die Dinge zwischen uns zukünftig klar geregelt sein wie in einem Protokoll, auslegbar wie die Sozialgesetzgebung. Im Falle unerwarteter Begegnungen in Bars oder Restaurants am Plateau war der höfliche Umgang zwischen Unbekannten ange-bracht, die man mit Handschlag begrüßt. Falls du dich mit einer anderen Frau in der Öffentlichkeit zeigen solltest, war es mir nicht erlaubt, sie anzusprechen, und falls ich allein unterwegs sein sollte, hieß das nicht, daß du mich ansprechen müßtest. Josée erwartete mich an diesem Tag im Parc Lafontaine dir gegenüber, und selbst diese entfernte Anwesenheit meiner Freundin hat dich geärgert, weil sie sich, wie du fandest, als Zeugin für etwas aufdrängte, das sie nichts anging; ich hatte sie darum gebeten, auf mich aufzupassen, mich nach unserem Abschied einzusammeln und nach Hause zu fahren.
    Vielleicht hast du später begriffen, daß ich sie auch dabei haben wollte, um nicht zu erfahren, ob du mich vielleicht ein letztes Mal gefickt hättest, aus der gleichen Angst, daß ich auf eine Geste warten könnte, die nicht käme, habe ich auch deine E-Mail-Adresse blockiert; seit Nadines Nachricht im letzten Dezember kam das Unglück immer durch das Internet.

    Wir haben uns wenig angeschaut an diesem Tag, ich wollte nicht, daß mein vom Weinen gerötetes Gesicht zu deiner letzten Erinnerung würde, und du hast die Distanz gewahrt, die die Verzweiflung des anderen erfordert.
    Aber du hast meine Hände ganz fest in deinen gehalten, ich spürte den eisernen Willen, die beherrschende Kraft, die von ihnen auf die Welt ringsum ausging und die mich von Anfang an in die Knie gezwungen hatte; deine Hände haben mich an den Mann erinnert, der mich in der Hütte meines Großvaters liebte. Dir ist einmal aufgefallen, daß sich unsere Streitereien mit der Zeit in einen Tanz auflö-
    sten, der uns aus deinem Zimmer hinaus zu deiner Woh-nungstür führte, wo wir einander umarmten, und wieder zurück in dein Zimmer zum Ficken. Ich ergänzte, daß du jedesmal die Augen schlossest, wenn ich deine Wange streichelte, und daß sich meine Lippen immer öffneten, wenn du mich am Nacken packtest, die Antworten lagen schon fertig in uns bereit, wir waren zwei Teile desselben Puzzles und deshalb, wie ich meinte, vollkommen kom-patibel; vielleicht aber hatte das alles gar nichts zu bedeuten, denn die Momente der Verzauberung in meinem Leben wurden in der Folge alle widerrufen.
    Du hast mich eine Zeitlang geliebt, aber du hast es ge-haßt, wenn ich weinte, der Ausfluß von Intimitäten in der Öffentlichkeit war dir zuwider, eigentlich ganz verständlich, schließlich zieht man auch den Gehenkten einen Sack übers Gesicht. Kinder dürften weinen, meintest du, aber Erklärungen sollten ihnen erst erlaubt sein, wenn sie sich wieder gefangen hätten, sonst werde die Stimme schrill wie bei den Frauen, die immer so ein Theater machten, etwas erklären heiße, alles erklären, auch die Niedertracht, das Greinen und den Rotz, etwas erklären heiße, Leid und Elend des zurschaugestellten Körpers aufzurechnen, wo doch die Zurschaustellung die Anwe-senden zwinge, ihre Zustimmung kundzutun, man werde dabei immer laut oder beginne wieder zu streiten, was schlimmer sei, Erklärungen fügten sich nicht in dein französisches Weltbild, nach dem man vor allem Haltung bewahrt. Ich habe viel geweint an diesem Tag, an dem wir uns so wenig angeschaut haben, und habe mein Gesicht an deinem Hemdkragen geborgen, um ein biß-
    chen französische Haltung an den Tag zu legen, aber es ist mir wie immer nicht gelungen, ich bin wie immer auf meiner Seite des Atlantiks geblieben.
    Irgendwann an diesem Tag entrang sich meiner Kehle ein Laut, der nicht aufhörte und gegen meinen Willen immer lauter wurde, ein Laut, der auf diesen Tag gewartet hatte, um vom Grund meiner Seele aufzusteigen, aus den dunklen Jahren falscher Liebe für Männer, die mich falsch liebten; es war ein lang gezogener, rauher Ton, der nicht wie ein Schluchzen klang, sondern wie die Klage eines Tieres, der anschwoll bis zu einem wahren Todes-ruf und sich wie ein Brandmal auf deine Brust legte. In dem Moment blieb alles stehen, und mir fiel plötzlich ein, daß ich diese Szene schon einmal erlebt hatte, kurz nach unserer ersten Begegnung; es hatte diesen Schrei schon einmal gegeben, und seine unaufhaltsame Wiederholung brachte mich ein für allemal zum

Weitere Kostenlose Bücher