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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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nach Erfolg und interessierten sich für Politik. Wenn ich heute anders bin als sie, dann deshalb, weil Kinder nichts von den Nachbarn behalten, und dieser Gemeinplatz sagt ausnahms-weise die ganze Wahrheit.
    Mein Großvater war der einzige, der in meiner Familie das Sagen hatte; er hatte einfach eine Stimme, die sich über alle anderen erhob. Meine ganze Kindheit hindurch sprach mein Vater nur im Namen seines Vaters, er sagte immer, mein Vater hat das gesagt, mein Vater hat jenes gesagt, dabei hob er den Blick zum Himmel, so daß nie ganz klar war, an wen er sich eigentlich wandte; mein Vater sprach nicht, er zitierte.
    Mein Vater war das getreue Sprachrohr seines Vaters, bis zu dem Tag, an dem mein Großvater beschloß, sich um meine Erziehung zu kümmern; er nahm mich zwei Tage die Woche zu sich und ging alle Lektionen, die ich bisher über das Leben gelernt hatte, noch einmal von vorn mit mir durch. Es war das erste Mal, daß mein Vater seinem Vater die Stirn bot, sie haben sich einen Kampf um das Erziehungsrecht geliefert, doch beide wußten sehr gut, wer der wahre Vater war, und schließlich ließ mein Vater mich fallen. Ich war damals bereits über das Alter hinaus, wo man bei seinem Vater auf dem Schoß sitzt, also sagte ich nichts mehr zu ihm und wurde mit dem Tag, an dem er aufgab, zu meines Großvaters Tochter.
    Fünf Jahre lang verbrachte ich alle Wochenenden bei meinem Großvater auf dem Land und hörte mir an, was er über alles zu sagen hatte; wenn ich wieder nach Hause kam, wollte ich meinem Vater erzählen, was mein Groß-
    vater mir erzählt hatte, doch davon konnte keine Rede sein, denn mein Vater respektierte die familiäre Rang-ordnung in der Übermittlung von Worten. Mein Großvater nahm mich jeden Sonntagmorgen mit in die Kirche und machte mich darauf aufmerksam, daß meine Eltern nie da waren. Er sagte, daß Gott in Quebec schneller gestorben sei als in Europa, in Europa habe er mehrere hundert Jahre lang mit dem Tod gekämpft, hier sei er plötzlich verschieden, man habe ihn einfach umgebracht, sein Leichnam sei noch warm, und zum Beweis dafür führte mein Großvater an, daß in allen Fernsehfilmen verlogene Priester auftraten, die Kinder mißbrauchten.
    In dem kleinen Häuschen meines Großvaters gab es eine Wäscheklappe in der Holztreppe zum Keller, wo sich eine Waschmaschine und ein Trockner befanden, ein Sofa und ein Fernsehapparat, ein Atelier und ein Stapel Brennholz, um das Haus zu heizen; der Keller meines Großvaters war ein gut besuchter Ort. Meine Großmutter muß praktisch dort unten gelebt haben, sie war ständig schwanger, und in einer bestimmten Epoche haben sich schwangere Frauen anscheinend im Keller verkrochen, eine Frage der Schwerkraft vermutlich. Eine Stufe der Kellertreppe ließ sich mit Hilfe einer kleinen Kette öffnen, durch das Loch wurde die Schmutzwäsche in einen Verschlag geworfen, aus dem man sie durch eine kleine Tür an der Seite der Treppe herausholen konnte. Der Verschlag erschien mir damals riesengroß, es paßten mehrere Kinder hinein, und meine Cousins und ich verbrachten viel Zeit darin, wir konnten dort reden und uns von unseren Ängsten erzählen, es war wie in einem Privatclub.
    Immer wenn ich bei meinem Großvater war und er mich mir selbst überließ, versteckte ich mich in dem Verschlag. Hier ahnte ich die Möglichkeit eines gehei-men Lebens, ich ahnte, daß man Dinge tun konnte, die anderen verborgen blieben, hier hatte die Scham einen Platz.
    An einem der letzten Tage, die ich auf dem Lande verbrachte, wollte ich wieder in den Verschlag und stieß zu meiner größten Überraschung auf meinen Großvater, der dort heimlich weinte. Erst Jahre später habe ich erfahren, daß mein Großvater nur selten weinte, aber wenn doch, weinte er im Verschlag. Als ich ihn an jenem Tag dort weinen sah, fiel mir ein Geruch auf, der mir plötzlich entgegenschlug: Es stank in dem Verschlag.

    *

    Mein Wahnsinn ging über deine Kräfte, er haute dich um.
    Du hast meine Art gehaßt, mich kleinzumachen und andere als Gefahr darzustellen, wenn die anderen mir zu hell strahlten, hast du gesagt, könne ich mich doch davor schützen, indem ich sie nur von ferne betrachte. Ich habe die Abende im Bily Kun ohnehin meist in einer Ecke beendet, ich hatte einen natürlichen Rückzugsdrang in mir, ich fiel von ganz allein auf die Knie. Ich überließ jedem, der kam, meinen Platz, und wenn eine deiner Verflossenen mit dir sprechen wollte, verzog ich mich oft auf die Toilette und

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