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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly Arcan
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stehen, kenne ich den Grund dafür; sie werden nicht durch die Hand Gottes fallen, nicht weil sie den Keim des städtischen Verfalls in sich tragen, sondern weil ich ganz allein diese Arbeit übernommen habe.
    Einmal, als du aus warst und ich auf deinem Bett lag und weinte, habe ich deine Katze Oreo geschlagen, die nach dir maunzte, weil ich meinte, sie müßte mir zur Seite stehen, sie müßte meine Gegenwart beachten und begreifen, daß sie zu schweigen hatte angesichts menschlichen Schmerzes. Seit diesem Tag hat Oreo nicht mehr nach dir gemaunzt, hat nicht mehr auf deinem Bürostuhl nach dir geschnüffelt, hat nicht mehr bei jedem Knacken in der Wohnung auf deine Rückkehr gelauscht, sondern sich auf den Fenstersims gelegt und mir zugesehen, wie ich nach draußen schaute. Nicht aus Liebe, sondern aus Angst, sie ahnte vielleicht, daß ich an solchen Tagen dachte, du wärst mit einer anderen zusammen, und daß meine Rache auch sie treffen könnte; Katzen sind wie Kinder, sie wissen instinktiv, daß die Größeren gern den Kleineren die Schuld zuschieben, weil es funktioniert.
    Von allen Wesen deiner Welt hat Oreo meine Verzweiflung am nahesten miterlebt. Ihr Blick war nicht kritisch genug, um mich zur Ordnung zu rufen, so hatte ich keinen Grund, mich ihr gegenüber an die Grenzen meiner Art zu halten und ein menschliches Bild von mir zu präsentieren, sie war wie ich, sie hatte keine Würde zu verlieren.
    Oreo störte es nicht, daß Sterben meine einzige Beschäftigung war, ich konnte stöhnen oder mich tot stellen, bäuchlings auf dem nackten Holzboden deines Zimmers in den Staub beißen und mit aufgerissenen Augen die Anstrengungen einer Ameise verfolgen, die zwischen deinen Büchern und den von Martine geblasenen Glä-
    sern, die du als Aschenbecher benutztest, ihren Weg zu finden versuchte. Ich konnte mich stundenlang hin- und herwiegen und mir mit der flachen Hand an die Stirn schlagen, ich konnte mit einem blauen Kugelschreiber das Plateau Mont-Royal auf meine Schenkel zeichnen und mit einem roten sämtliche Wege nachfahren, auf denen du zum Parc Lafontaine gelangen könntest. Auch in Oreos Gesellschaft war ich immer allein, wir dachten beide an dich, jede für sich. Immer wenn du heimkamst, hast du mir erklärt, du seist in aller Freundschaft mit Martine oder Annie essen gegangen oder ins Eldorado oder ins Olympico, um deine Artikel fürs Journal zu schreiben, aber du hättest auch sonst wo gewesen sein können. Das Problem zwischen uns war wohl weder Martine noch Annie noch dein Job, sondern daß Martine und Annie und dein Job nur dein Alibi waren. Wenn in der Elle Quebec etwas über Untreue steht, gehen die Psychologen stets auf die Gefahr der Entfernung zwischen den Partnern ein, ohne dabei zu berücksichtigen, daß für den im Zweifel gelassenen Partner Entfernungen gar nicht existieren, daß die Phantasie des von Mißtrauen geplagten Partners ihm die entferntesten Orte vor Augen führt; ich habe noch in keinem Artikel gelesen, daß die Wachsamkeit des Eifersüchtigen Materie zum Bersten bringen und Zeitreisen ermöglichen kann.
    Mein Großvater hat gesagt, was man im Leben am meisten fürchtet, ist schon passiert, er hat oft solche Sachen gesagt, weil er mein Bestes wollte, und das hieß für ihn vor allem, mich auf das Schlimmste vorzuberei-ten.

    *

    Am Tag der Trennung, die ich nun weiterführe, haben wir uns verstanden, wie man einander versteht, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat. Wir waren in deinem Zimmer, Martine war in ihrem, und deine Katze Oreo hat zusammengerollt auf deinem Schreibtischstuhl geschlafen. Wir haben lange geredet an diesem Tag und uns so viele Dinge gesagt wie am Abend unseres ersten Zusam-mentreffens im Nova, aber wir haben einander nur halb zugehört, vielleicht weil das, was der andere sagte, zu diesem Zeitpunkt schon zu einer alten Leier geworden war, die wir nur allzu gut kannten, vielleicht weil meine Tränen zu lange Pausen zwischen den Worten entstehen ließen, die an uns beiden zehrten, vielleicht auch, weil wir beide zu egoistisch geworden waren, weil du an nichts anderes mehr denken konntest, als dich von mir zu befreien, und ich nur bei dir bleiben wollte. Wir haben im voraus Frieden geschlossen mit einem Nichtangriffspakt, der jedem das Recht auf ein eigenes Leben garantierte.
    Nach der Trennung stand es dir zu, dich vor meinen Überfällen zu schützen, ich hätte mir ja ohne dein Wissen deine Wohnungsschlüssel nachmachen lassen können, und du wolltest mich

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