Hoerig
kennenlernte, jetzt gehört er dir, seine Größe erinnert mich zu sehr an deine, ich kann ihn nicht mehr betreten. Es ist ein Park für Paare, die dort schweigend Spazierengehen, ein Park für Eichhörnchen, die der Autolärm nicht stört, ein Park für Homosexuelle und für kleine Kinder. Er verschönert auch das Leben der Menschen, die von Berufs wegen in Form bleiben müssen, ich sage das, weil ich mich dort ganze Sommer lang bräunen ließ, während ich auf meine Kunden gewartet habe, die ich in einem Apartment Ecke Rue Sherbrooke und Rue Amherst empfing. Ich mußte es aufgeben, weil die Nachbarn mich bei der Polizei angezeigt hatten, allerdings erzählten sie mir gleich darauf von der Denun-ziation, um ein reines Gewissen zu behalten. Ich hatte nicht einmal mehr die Zeit, meine Sachen zusammenzu-packen, es mußte ganz schnell gehen, auf Bleistiftabsätzen die Treppe hinunter und raus aus der Tür, sie wollten mich nur weghaben und nicht meine Zukunft gefährden, ich war Studentin, so was rührt einen, weil es an die gute alte Zeit erinnert. Seither frage ich mich, was aus meinen Albert-Enzian- Comics geworden ist und aus den fünfhundert Dollar, die ich unter den Herdplatten versteckt hatte, vermutlich sind sie mitsamt dem Herd auf der Müllhalde gelandet. Wenn ich an diese Zeit meines Lebens zurückdenke, tut es mir leid, was ich in meinem ersten Buch darüber geschrieben habe, heute ist meine Erinnerung viel positiver.
Wenn du mit Annie oder Martine essen warst, wußte ich nicht mehr, wohin und ging dann oft in den Parc Lafontaine. Auch die stärksten Fröste hinderten mich nicht daran, nichts auf der Welt kann den Irrsinn in seinem Lauf aufhalten, es heißt, daß Menschen, die ihn kommen sehen, ausweichen, um nicht niedergemäht zu werden, und die Malaien haben sogar ein Wort für dieses blinde Vorwärtsstürmen gefunden: Amok. In diesem Winter war ich überall, wo ihr euch an den vielen lauen Sommerabenden, die ihr zusammen verbracht habt, geliebt haben könntet, Nadine und du, in all den dunklen Ecken, wo du sie vielleicht in den Arsch gefickt hast und ihre Scheiße sich mit der Natur vermählte und nur Kenner des Parks euch gesehen haben. Anscheinend liegen hinter den Vorhängen der umliegenden Wohnungen Voyeure auf der Lauer, die sich Liebespaaren mit dem Fernglas nähern, anscheinend praktizieren Paare im Park tagtäglich Exhibitionismus, das hast du mir selber einmal gesagt. Ich habe alle Bäume ausfindig gemacht, hinter denen ihr gesehen worden sein könntet, zum Beispiel abseits der Wege rund um den See in der Mitte, auf denen andere beim Familienausflug ihre Langeweile spazieren fuhren. Ich wüßte gern, warum die Bäume auch heute noch ihren Zweck erfüllen, indem sie mir zeigen, was sie vor mir verbergen sollten. Ich gebe ja zu, daß Hellsicht, die sich auf die Vergangenheit beschränkt, in den Bereich der Geisteskrankheit gehört. Am Tag nach Nadines Nachricht, mit der sie dich nach achtmonatigem Schweigen zur Wiederaufnahme des Kontakts animierte, habe ich ihre Adresse in deinem Outlook blockiert. Als du das tags darauf bemerktest, hast du mir zum Ausgleich den Zugang zu deinem Computer mit einem Paßwort versperrt und dich darauf berufen, daß du ein Recht auf dein Privatleben hättest. Auf der Suche nach dem Paß-
wort habe ich die Namen aller Frauen eingegeben, die du kanntest, und am Ende hat ein Name mir auch die Tür geöffnet, es war der deiner Katze Oreo.
Heute kommt es mir so vor, als hättest du den Namen Annie etwas zu bewußt in den Mund genommen, wenn du von euren gemeinsamen Abenden erzähltest, als hätte dein Mund, der sich der Wahrheit verpflichtet fühlte, etwas anderes sagen wollen, Nadine beispielsweise, was du nur mit Mühe verhindern konntest. Wie jeder Psychia-ter weiß, hat Wahnsinn mit dem Gedächtnis zu tun, das sein Bett verläßt und Menschen mit der Fähigkeit ausstat-tet, überall gleichzeitig zu sein, und wie auch jeder weiß, kann man sich sehr wohl an etwas erinnern, das so im einzelnen nie stattgefunden hat. Wenn mein Großvater noch lebte, würde er vielleicht zu mir sagen, daß eines Tages alle, auch die größten Bäume im Parc Lafontaine gefällt werden müßten, weil die giftigen Ausdünstungen der Stadt schließlich den Prozeß der Photosynthese pervertiert und Knospenmutationen erschaffen hätten, die aufgrund der ihnen innewohnenden todbringenden Pest unter den Menschen eine Säuberung vorzunehmen drohte. Falls die Bäume eines Tages nicht mehr
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