Hoffnung am Horizont (German Edition)
Erinnerung war immer noch überraschend frisch. „Ich erinnere mich genau an das, was er gesagt hat. Wort für Wort. ‚Es freut mich, dass Sie in Mrs Jennings eine so gute Freundin haben.‘ So höflich, so nett, rein oberflächlich betrachtet. Doch ich wusste, was er wirklich dachte.“
„Aber du hast ihn doch sicher zurechtgewiesen und ihm eine schnippische Antwort gegeben?“ Hannahs hochgezogene Braue zeigte, dass sie sich gut vorstellen konnte, welche beißende Bemerkung an jenem Abend über Annabelles Lippen gekommen war.
Annabelle schüttelte den Kopf. „Das ist es ja gerade. Ich wusste, was er dachte, und … ich konnte kein Wort sagen. Ich stand einfach nur da. Ich brachte keine bissige Bemerkung über die Lippen, Hannah, weil … weil ich wusste, dass alles, was er über mich dachte … wahr ist. Ich hatte wahrscheinlich all die Dinge getan, die er vermutete. Und noch schlimmere.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Als sie zu schlucken versuchte, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Sie wagte es nicht, den Blick zu heben, als sie weitersprach. „Ich habe in meinem Leben so viel gesündigt“, flüsterte sie. „Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Und ich könnte so vieles von dem, was ich getan habe, ungeschehen machen.“
Sie fühlte, wie Hannahs Arm sich um ihre Schulter legte, und wehrte sich nicht, als sie näherrutschte.
„Aber das alles ist vergeben, Annabelle! Alles Schlimme, was du getan hast, was ich getan habe … egal was, es ist alles vergeben. Das weißt du.“
Annabelle nickte. Sie saßen einige Zeit schweigend da. Annabelle überlegte, wie viel sie Hannah von dem, was sie beschäftigte, noch mitteilen sollte. Sie vertraute Hannah, das war nicht das Problem. Und sie brauchte die Unterstützung und den Rat ihrer Freundin. „Versprichst du mir, Hannah, dass du nichts von dem, was ich dir jetzt sagen werde, als abwertend gegenüber Jonathan als Mann oder gegenüber seinem Andenken verstehen wirst?“
Hannah verstärkte ihren Griff um Annabelles Schulter. „Versprochen.“
„Ich hatte Matthew schon gesehen, bevor Kathryn uns an jenem Abend einander vorstellte. Ich habe bei ihr zu Hause auf sie gewartet. Da stand Matthew plötzlich vor ihrer Tür, klopfte und ging wieder, als sie nicht öffnete. Ich konnte ihn von innen beobachten, aber er hat mich nicht gesehen.“ Annabelle machte mit ihrem Fingernagel einen kleinen Schlitz oben in den Grashalm und zog ihn vorsichtig auseinander, bis sie den Halm in zwei Teile gespalten hatte. „Es klingt bestimmt seltsam, auch für mich selbst, aber an dem Mann, den ich an jenem Abend sah, war etwas, das mich … zu ihm hinzog. Und so etwas ist mir noch nie zuvor passiert.“ Sie zuckte die Achseln und fühlte sich unsicher und schutzlos. „Ich weiß, dass es dir seltsam erscheinen muss, so etwas von einer Frau wie mir zu hören, die schon mit vielen Männern zusammen war.“
„Nein, das ist für mich überhaupt nicht seltsam, Annabelle. Es klingt sogar völlig logisch.“ Ein Spatz landete auf einem Zaunpfahl neben ihnen und sie sahen beide schweigend zu, wie er wieder wegflog. „Was an Matthew Taylor hat dich an jenem Abend zu ihm hingezogen?“
Hannah holte das, was Annabelle vorher nur angedeutet hatte, mit ihrer direkten Frage an die Oberfläche. Was hatte sie an jenem Abend zu Matthew hingezogen? „Der Mann, den ich an jenem Abend sah, hatte ein gewisses Selbstvertrauen. Er war nicht arrogant oder einschüchternd. Es war mehr die Art, wie er auftrat. Ich sagte zu Kathryn, dass man meinen könnte, er wisse etwas, das der Rest der Welt nicht weiß.“
„Matthew Taylor ist ein sehr gut aussehender Mann“, sagte Hannah sachlich. „Das ist mir sofort aufgefallen. Aber verrate Patrick nicht, dass ich das gesagt habe.“ Sie stieß Annabelle verspielt in die Seite. „Pfarrersfrauen sollten solche Dinge nicht auffallen.“
Annabelle lächelte und dachte an Matthews Gesicht und seine Augen. Sie hatten die Farbe von warmem Whiskey an einem Winterabend. Sie nahm den nächsten Grashalm und spaltete ihn genauso wie den anderen. „Als ich Matthew Taylor das zweite Mal vorgestellt wurde, war es noch schlimmer. Im Vergleich dazu war unsere erste Begegnung richtig freundlich.“ Sie erzählte Hannah von Matthews Besuch in der Hütte und wie Jonathan und Matthew miteinander gestritten hatten.
Hannah seufzte traurig. „Hattest du herausgefunden, dass Matthew Jonathans Bruder war, bevor du ihn an
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