Hoffnung am Horizont (German Edition)
Männer hatten abwechselnd aus der Bibel vorgelesen. So nett das auch gewesen war, der Gedanke, tatsächlich ein Gotteshaus zu betreten, war noch verlockender.
Patrick und Hannah hatten sie oft aufgefordert, mit ihnen zum Gottesdienst zu gehen. Doch Annabelle hatte immer abgelehnt, da sie genau wusste, welchen Empfang sie von Leuten wie Mrs Cranchet zu erwarten hätte. Außerdem wollte sie nicht, dass die Carlsons für ihre Fehler büßen müssten. Wenigstens nicht noch mehr, als sie es ohnehin schon taten, weil sie Annabelle bei sich im Haus aufgenommen hatten. Im Moment waren die einzigen Predigten, die sie miterleben konnte, diejenigen, die Patrick und Hannah und einige andere Menschen jeden Tag mit ihrem Leben hielten. Und die Predigten, die Jonathan in seinem Leben so vorbildlich umgesetzt hatte.
Hannah schüttelte ein feuchtes Hemd aus und hängte es an die Leine. „Was hast du im nächsten Jahr in Denver vor? Wovon willst du leben?“
„Am wichtigsten ist, dass ich dieses Baby bekomme, und ansonsten werde ich schon zurechtkommen. Mach dir um mich keine Sorgen. Wenn ich sparsam lebe und mir mit Bügeln oder Putzen Geld verdiene, müsste ich im nächsten Mai immer noch genug übrig haben. Jonathan hat viel für uns gespart, Hannah. Mehr, als ich je erwartet hätte.“
Gemeinsam hängten sie die restliche Wäsche auf. Der tröstliche Geruch von Seife und Sonnenschein durchdrang die warme Luft, während die feuchten Laken sanft im Wind flatterten. Annabelle hatte es nie etwas ausgemacht, Wäsche zu waschen. Etwas sauber zu schrubben war für sie immer ein gutes Gefühl gewesen.
„Kann ich dir eine Frage stellen?“ Hannah hob den leeren Korb hoch und setzte ihn auf ihre Hüfte.
Annabelle wartete und hörte an Hannahs verändertem Tonfall, dass jetzt eine ernste Frage käme.
„Zu Matthew Taylor und dem, was gestern passiert ist …“ Hannah sah sie einen Moment an, als prüfe sie, ob sie sich weiter vorwagen könne. Dann entschied sie offensichtlich, dass sie es riskieren konnte. „Du hast uns gestern Abend erzählt, dass er Jonathans jüngerer Bruder ist. Und dann hast du erwähnt, dass Matthew von deiner Arbeit im Bordell weiß und dir daraus einen Vorwurf gemacht hat.“ Hannah biss sich auf die Unterlippe. „Der zeitliche Zusammenhang ist mir aber nicht ganz klar. Du hattest dieses Leben schon eine Weile hinter dir gelassen, als du Jonathan im letzten September geheiratet hast. Matthew besuchte euch beide erst im Oktober. Woher wusste er also von diesem Teil deines Lebens?“
Da Annabelle sich für die Beantwortung dieser Frage etwas Zeit nehmen musste, deutete sie zu einer Bank, die am Rand der Wiese stand. Sie setzten sich. „Ich habe Matthew Taylor das erste Mal vor ungefähr zwei Jahren durch Kathryn Jennings kennengelernt. Ich weiß nicht, ob du Bescheid weißt, was damals alles passiert ist.“
Hannah machte eine beruhigende Handbewegung. „Du brauchst mir nichts erzählen, das dich oder Kathryn oder Matthew in irgendeiner Weise kompromittieren würde.“ Sie schaute sie mit einem schwachen Lächeln an. „Aber ich muss zugeben, dass das, was gestern hier passiert ist, meine Neugier angestachelt hat.“
„Ich hätte nicht erwartet, Matthew Taylor je wieder zu sehen, und schon gar nicht, dass er hier auftauchen würde.“ Annabelle beugte sich vor und pflückte einen langen Grashalm. Dann stützte sie die Ellenbogen auf ihre Knie. „Wie ich schon sagte, wir haben uns durch Kathryn kennengelernt. Matthew Taylor warf an jenem Abend einen einzigen Blick auf mich und … ich konnte es in seinen Augen sehen. Die Verachtung …“ Bei der Erinnerung daran schüttelte sie den Kopf. „Doch er hat nicht nur das, was ich tat oder was ich war, missbilligt. Das war ich von anderen Menschen gewohnt. Er hat mich langsam von Kopf bis Fuß gemustert, aber nicht so, wie ein Mann manchmal eine Frau ansieht.“
Hannahs Miene wurde nachdenklich. „So als dachte er, er wäre etwas Besseres als du?“
Annabelle überlegte ein paar Sekunden. „Nein. Eher so, als wäre er froh, dass er nicht in meiner Haut steckt. Als wäre er dankbar, dass er die Dinge, die ich getan habe, nicht getan hat. Und als wäre er froh, dass er nicht so gelebt hat, wie ich lebte.“
„Hat er an diesem Abend etwas zu dir gesagt, nachdem Kathryn euch einander vorgestellt hat?“
Annabelle nickte. „Aber ich glaube, er wäre fast an seinen Worten erstickt.“ Sie brachte ein kurzes Lachen zustande, aber der Schmerz dieser
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