Hoffnung am Horizont (German Edition)
Nacht hinein, konnte aber keine Geräusche von der Seitenwand des Hauses mehr ausmachen. „Wer auch immer Sadie hat, er ist längst fort. Mit ihrem ungewöhnlichen Aussehen fällt sie zu sehr auf, als dass man sie in der Nähe gelassen hätte.“ Ihre Erscheinung machte den besonderen Reiz des Mädchens aus, und es war gleichzeitig ihr Fluch. „Aber vielleicht ist das in gewisser Weise sogar gut. Wenn sie in einer der Städte ist, durch die wir auf unserem Weg in den Norden kommen, oder wenn sie vor Kurzem dort war, finde ich sie hoffentlich.“
„Was willst du machen, wenn du sie gefunden hast?“
Sie war dankbar, dass Patrick „wenn du sie gefunden hast“ sagte und nicht „falls du sie finden solltest“. „Ich kaufe sie frei, wenn es irgendwie geht.“
„Und wenn das nicht geht?“
Sie hob die Schultern und seufzte schwer. „Das weiß ich nicht. Aber ich lasse sie nicht im Stich. Nicht noch einmal. Seit ich diesem Leben entfliehen konnte, denke ich jeden Tag an dieses arme Kind, das immer noch darin gefangen ist.“
Sie hörte, dass jemand tief ausatmete. Das Quietschen der Schaukel verstummte.
„Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll, Annabelle.“
Sie schaute in der Dunkelheit zu Patrick hinüber. Sein Kopf war gebeugt, seine Unterarme waren auf seine Oberschenkel gestützt. „Du kannst mich alles fragen, Patrick. Das gilt auch für dich, Hannah. Das wisst ihr.“
„Wir wollen nicht neugierig sein, Annabelle.“ Die Dunkelheit konnte die liebevolle Fürsorge in Hannahs Stimme nicht verbergen. „Wir wollen nur verstehen …“
„Was wollt ihr verstehen?“, fragte sie nach einer langen Pause.
Patricks Worte waren leise. „Wir wollen verstehen, was du durchgemacht hast. Du hast Hannah und mir gesagt, dass du sechzehn Jahre … im Bordell gearbeitet hast. Ich will dich mit dieser Frage nicht beleidigen, aber …“ Er schwieg, als könne er sich nicht überwinden, die Worte auszusprechen.
„Wie so viele Jahre vergehen konnten, ohne dass ich eine Fluchtmöglichkeit gefunden habe?“, beendete Annabelle seine Frage.
„Hast du je daran gedacht, einfach wegzulaufen? Vielleicht nachts zu verschwinden?“
Patricks Zögern rührte sie an, genauso wie seine Naivität. „Erstens muss ich dir sagen, dass es nicht mehr viel gibt, das mich beleidigen könnte. Außerdem weiß ich, dass ihr beide es nur gut mit mir meint.“ Annabelle rieb leicht über ihr Handgelenk und fühlte die Vernarbungen an der Unterseite. „Ich bin weggelaufen. Am Anfang sehr oft. Aber mit jedem Mal, wenn sie einen zurückholen, werden die Schläge schlimmer.“
„Sie werden schlimmer?“, fragte Hannah.
„Die Bordellmütter, für die ich gearbeitet habe, beschäftigten immer auch Männer. Es gab immer mindestens einen Mann. Er sorgte dafür, dass die Kunden nicht randalierten und nicht zu brutal zu den Mädchen wurden. Er griff bei Schlägereien ein und erledigte alles, was die Bordellmutter mit dem Gesetz hätte in Konflikt bringen können. Er sorgte auch dafür, dass die Mädchen ‚geschützt‘ waren. So nannten sie es jedenfalls.“ Sie dachte an Gallagher, den Mann, der für ihre letzte Bordellmutter Betsy arbeitete. Annabelle erschauerte, als sie daran dachte, was er ihr und den anderen Mädchen angetan hatte, um ihnen klarzumachen, wo ihr Platz war.
„Wenn ein Mädchen verschwand, wurde der Mann losgeschickt, um sie zurückzuholen, weil das Mädchen der Bordellmutter Geld schuldete. Die Hälfte von allem, was wir verdienten, ging sofort an sie. Und dann mussten wir für Kost und Logis und Kleidung zahlen. Eine Prostituierte bekommt keinen Kredit. Kein Händler oder Kaufmann hätte uns etwas geliehen.“ Sie dachte daran, wie Matthew diesen Umstand neulich nicht gerade feinfühlig angesprochen hatte. „Also mussten wir uns von der Bordellmutter Geld leihen.“
„Und dadurch seid ihr immer tiefer in ihre Schuld geraten.“ Patricks Stimme verriet, dass er anfing zu begreifen, wie ihr Leben ausgesehen hatte.
„Mit der Zeit schuldete man ihr immer mehr Geld. Manchmal bot sie an, einem Mädchen die Schulden zu erlassen, wenn sie dafür einen neuen Vertrag unterschrieb. Das habe ich zweimal gemacht, weil ich dachte, ich könnte mir das Geld verdienen, um mich loszukaufen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Aber das funktionierte nie. Sie ließ einen nur noch mehr arbeiten. Mehr Stunden und mehr Kunden pro Nacht.“
„Davon hatte ich keine Ahnung.“ Patricks Stimme war nur ein heiseres Flüstern.
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