Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
lähmende Depression in mir hochkriechen. An einem dieser Tage komme ich kaum hoch von meiner Pritsche, als sie mich für die Pause holen kommen. Ich habe das Recht, den Ausgang zu verweigern, wenn ich will, aber Robert würde sich wahrscheinlich Sorgen machen. Oder sich gar verraten fühlen und auf Vergeltung sinnen.
Durch mein fünfzehn Zentimeter breites Fenster blicke ich auf die langgestreckte, offene und frisch gemähte Rasenfläche. Ich denke an Frau Gravatte, meine fünfundachtzigjährige Nachbarin in der Wohnung über meinem Apartment, oder vielmehr: meinem ehemaligen Apartment. Immer am Mittwoch, wenn ich meinen freien Tag hatte, ging sie einkaufen, und ich half ihr, die Einkaufstaschen vom Taxi in den dritten Stock zu schleppen. Sie zeigte sich jedes Mal über die Maßen dankbar für den kleinen Gefallen, und nachdem die Lebensmittel sicher in ihrem Apartment verstaut waren, hat sie mich meistens noch auf eine Tasse Tee eingeladen. Ich habe unter Verweis auf meinen angeblich vollen Terminkalender immer abgelehnt, dabei hätte ich diese paar Minuten ruhig erübrigen können. Wahrscheinlich hat sich die alte Dame in ihren vier Wänden ungefähr so gefühlt wie ich mich jetzt in den meinigen.
Ein einziges Mal hab ich mich, an einem meiner Waschtage, auf eine Plauderei mit ihr eingelassen, das war auf der Eingangstreppe vor dem Haus, wo sie auf ein Taxi wartete. Sie erzählte von einem deutschen Soldaten, den sie in Frankreich wenige Tage vor dem D-Day getroffen hatte. Sie lebte in der Normandie, nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt, wo die Alliierten landen sollten, und arbeitete in einem Kaffeehaus. Dieser junge Deutsche, der vielleicht achtzehn Jahre alt war, kam eines frühen Morgens ganz allein herein, draußen regnete es in Strömen, und bestellte einen Espresso. Frau Gravatte war etwa gleich alt wie er, und sie erinnerte sich, dass der junge Mann einige Versuche unternahm, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er machte einen einsamen und verschreckten Eindruck, doch sie war eine gute französische Patriotin (diesem Wort verlieh sie einen ironischen Unterton) und ließ ihn jedes Mal abblitzen, indem sie sich in ihre Zeitung verkroch. Schließlich hörte es auf zu regnen, er trank seinen Kaffee aus und verließ das Lokal, nicht ohne sie anzulächeln. Ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.
Frau Gravatte sagte, sie habe seither jeden Tag an ihn gedacht. Sie sagte, sie wünschte, sie hätte sich anders verhalten, mit ihm bloß ein wenig geklatscht. Sie war sich sicher, dass er in den Kämpfen getötet wurde; sie wusste es einfach, und immer wenn sie daran dachte, fühlte sie ein stechendes Schuldgefühl, auch jetzt noch, nach sechzig Jahren. Er war ganz allein, weit von zu Hause entfernt, und hatte wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben, und alles, was er wollte, war ein freundliches Wort. Und Frau Gravatte hatte ihm dieses Wort verweigert, nur wegen der Uniform, die er trug.
Ich weiß noch, dass mich ihre Geschichte damals gerührt hat, doch heute, während ich hier stehe und den schwarzen Überwachungswagen vorbeirollen sehe, frage ich mich, ob sie sich da nicht bloß einer sentimentalen Erinnerung hingegeben hat. Schließlich waren das dieselben Leute, die auch für das Malmedy-Massaker, für Buchenwald und Auschwitz verantwortlich waren. Und was hatte sie schon groß verbrochen? Einen Espresso ohne Lächeln serviert? Ich denke, vor dem großen Weltenrichter wird man das als lässliche Sünde durchgehen lassen. Eines Tages (beinahe denke ich die verbotenen Worte »wenn ich hier je rauskomme«, entscheide mich aber für »sollte sie mich hier besuchen kommen«) werde ich ihr das sagen. Vielleicht fühlt sie sich dann besser.
Dann kommt mir in den Sinn, dass Robert ein Mensch mit einer durch und durch unsentimentalen Weltsicht ist. Würde Robert diese Kriegsgeschichte nicht ganz genau so beurteilen, wie ich das eben getan habe? Mein Aufenthalt an diesem Ort beraubt mich meiner Menschlichkeit und meiner Emotionen. Ich werde jeden Tag ein wenig mehr wie Robert.
»Ich wusste, dass ich eines Tages hier enden würde«, erzählt Robert, eine Orange kauend. Wir bekommen jeden Monat frisches Obst von einer kirchlichen Organisation, die sich um Menschen in der Todeszelle kümmert. Vor einigen Jahren war mal die Rede davon gewesen, dass die Todeskandidaten in ihren Zellen vor Hunger fast umkamen. Was folgte, kann zwar nicht gerade als Aufschrei in der Presse bezeichnet werden, doch setzte sich
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