Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
wie mich ist das echt eine Leistung. Aber davon hat vor Gericht keiner gesprochen.«
»Die hätten dir eine Verdienstmedaille geben und dich laufenlassen sollen«, sage ich.
»Du hast verdammt recht«, sagt Robert, und wir fangen beide zu lachen an. Er schüttelt den Kopf. »Einunddreißig verdammte Jahre lang.«
Ich genieße die Orange, lasse den Saft mein Kinn hinunterlaufen.
Kapitel sechs
Es gibt Tage, an denen nichts zu stimmen scheint. Religiös und spirituell veranlagte Menschen glauben dann ein warnendes Kribbeln in der Wirbelsäule zu spüren oder stellen Bezüge zu den Planeten her, denen es an solchen Tagen angeblich an der richtigen Ausrichtung mangelt. Ich glaube eher, dass mein seltsames Gefühl konkrete Ursachen hat, die ich bloß noch nicht festmachen konnte. Jedenfalls werde ich heute Abend das Gefühl nicht los, dass da irgendwas ziemlich Beschissenes abläuft.
Vielleicht liegt es daran, dass vom Flur draußen heute mehr Umtriebe zu vernehmen sind als gewöhnlich. Normalerweise sind die Geräusche aus dem Flur gedämpft, aber hörbar. Heute Nacht brandet immer wieder Lärm auf, und zwischendurch herrscht Stille. Während ich ansonsten kaum je die Schritte von mehr als zwei Personen gleichzeitig hören kann, sind es heute Nacht vier, ja fünf, die ich gleichzeitig gehen höre. Der Mann, der mir mein Abendessen brachte – trockene Schweinskoteletts, verkrustetes Fertigpüree ohne Soße und einen altbackenen Brownie –, hatte nichts gesagt, als er mir das Essen durch den Schlitz schob. In der Regel ruft er immer »Abendessen« oder meine Häftlingsnummer oder gelegentlich auch »Mahlzeit!« Evans sagt immer »Das Dinner ist serviert, Sir«, in der Manier eines Butlers. Doch an diesem Abend: Stille.
Es ist Samstagnacht. Morgen darf ich duschen, während alle anderen den Pfarrer treffen. Durch das Fenster blicke ich auf die hellen, weißen Lichter, die das frisch gemähte Gras beleuchten; der Anblick erinnert mich an ein Nachtspiel im Arlington-Stadion. Nur in den Gefängnissen und in den Baseball-Stadien ist der Rasen dermaßen gepflegt und gut beleuchtet. Eine Sekunde lang glaube ich in der Ferne Hunderte Fans den Zaun entlang aufgereiht zu sehen, dann wird mir klar, dass es sich um eine Halluzination handeln muss. Ich wünschte, sie würden uns ein paar Baseball-Spieler schicken, die am Rasen ein Pickup-Spiel veranstalten. Man würde sich ja schon höllisch freuen, wenn es nur irgendwas zu sehen gäbe, irgendwas, wodurch sich ein Tag vom vorigen oder vom nächsten Tag unterscheidet.
Mir fehlt das Herumgehen, vor allem im Regen. Ich vermisse Orangen, wie ich gestern feststellte, als mir Robert ein Stück abgab. Ich vermisse auch Äpfel. Und Schokolade, und guten Kaffee und Autofahren. Ich bin Taxifahrer geworden, weil ich schon immer gern gefahren bin und mir dachte, warum sollte ich nicht Geld dafür verlangen? Das ist immerhin leichter als Fensterrahmen drei Stockwerke hochzuschleppen. Ich sehne mich danach, den Highway 35 in einer klaren Nacht entlangzurollen, wenn du die Skyline von Dallas mit dem von neongrünem Licht bestrahlten Bank-of-America-Haus sehen kannst. Mir fehlen die Frauen und der Klang ihrer Stimmen, und der Geruch, den sie mit ihren Parfums in meinem Taxi verbreiten, wenn sie samstagnachts die Bars aufsuchen.
Samstagnacht. So wie heute.
Ich höre einen Schrei aus dem Flur. Ein langes, anhaltendes, hemmungsloses Heulen vor Schmerz oder Panik. Ich warte auf das nun sicher folgende Aufjaulen des Tasers, doch stattdessen erneut Gebrüll. Ich höre die Geräusche miteinander kämpfender Menschen, und wie ein Mann leise spricht, aber ich kann nicht hören, was er sagt, nur das Murmeln seiner Stimme. Jetzt gehen sie an meiner Zelle vorbei, und ich identifiziere Clarence als den Brüllenden. Das überrascht mich nicht. Seit ich hier bin, ist er für fast jede nächtliche Unruhe verantwortlich. Für gewöhnlich wäre er längst mit dem Taser behandelt worden. Als der murmelnde Mann an meiner Zellentür vorbeigeht, wird mir klar, dass er im Gehen ein Gebet aus der Bibel vorliest.
Mir läuft es kalt über den Rücken. Heute Nacht wird Clarence hingerichtet. Den ganzen Tag über hat keiner davon gesprochen. Mit keiner meine ich Robert, zumal er der einzige Mensch ist, mit dem ich überhaupt spreche. Clarence war heute nicht im Ausgang, doch da er auch sonst etwa einmal die Woche in der Zelle blieb, hab ich dem keine Beachtung geschenkt. Clarence brüllt auf dem Weg in die
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