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Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)

Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)

Titel: Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Levison
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Kammer, doch nach einer Weile wird das Brüllen leiser, dann höre ich das Öffnen und Schließen einer Tür, und es ist wieder ruhig.
    Ich blicke aus dem Fenster und stelle fest, dass ich gar nicht halluziniert habe, dass sich da draußen außerhalb der Umzäunung tatsächlich Menschen versammelt haben. Es sind aber keine Baseball-Fans, sondern Gegner der Todesstrafe. Wahrscheinlich tauchen sie vor jeder Exekution außerhalb des Gefängnisses auf, mit ihren Tafeln, Überzeugungen und Hoffnungen. Mir kommt ein Robert-Gedanke: Warum möchten diese Leute Clarences Leben verlängern? Damit er weiter in einem Kasten leben, den Wärtern Schwierigkeiten bereiten und zur Strafe Ausgangsverbot bekommen kann? Ich bezweifle, dass einer der Leute da draußen Clarence jemals getroffen hat, geschweige denn weiß, wie es hier drin zugeht. Und wenn wir schon dabei sind – wozu brüllt Clarence eigentlich wie verrückt? Nach all den Schwierigkeiten, die er verursacht hat, und nach all dem Leid, das er durchmachen musste, will er tatsächlich sein komplett versautes Leben fortsetzen?
    Offenbar will der Mensch ganz einfach grundsätzlich weiterleben, denke ich.
    Ich betrachte meine Fingernagelmarkierungen an der Wand. Sie sind nicht auf dem neuesten Stand. An manchen Tagen vergesse ich darauf. Während ich im Krankenhaus lag, hab ich keine gemacht, und an dem Tag, als mich mein Anwalt besuchte, auch nicht. An anderen Tagen vergesse ich, ob ich das Zeichen früher schon gemacht habe, und da kann es passieren, dass ich einen Tag zweimal markiere. Oder gar nicht. Heute habe ich’s, glaube ich, noch nicht getan. Ohne exakte Zählung sind die Markierungen wertlos. Es sind jetzt einundachtzig Zeichen, und alles, was ich weiß, ist, dass ich schon länger als einundachtzig Tage hier bin. Oder ziemlich genau so lange. Vielleicht aber auch einen oder zwei Tage kürzer.
    Ich gehe rüber und mache eine Doppelmarkierung in Form eines X. Das ist der Tag, an dem sie Clarence hingerichtet haben. Ich fühle mich augenblicklich besser, als hätte ich ihm ein Gedicht geschrieben oder seiner Familie etwas Gutes getan. Als hätte ich irgendetwas bewirkt. Wie die Menschen da draußen mit ihren Spruchbändern.
    Ich lege mich auf die Pritsche und starre an die weiße Decke.
     
    Am nächsten Tag beim Ausgang frage ich Robert, was Clarence getan hat.
    Robert grinst; er freut sich, dass die Exekution stattgefunden hat. »Ich hatte schon gedacht, die würden den Arsch nie mehr töten«, sagt er gut aufgelegt. »Der Typ hat an die sechs Mal Aufschub bekommen. Seit sechzehn Jahren ist der jetzt im System. Vor fünf Jahren haben sie ihn hierhergebracht, weil er überall sonst so viele Probleme gemacht hat.«
    Ich frage nochmal, was er getan hat, und versuche mit eintönigem Tonfall zu vermitteln, dass mir die ganze Sache nicht so viel Spaß macht wie offensichtlich ihm.
    »Er hat einen Bullen erschossen«, sagt Robert. »Zumindest hat er das behauptet. Alle Nigger behaupten, sie hätten einen Bullen umgelegt. Das ist eine coole Sache für einen Nigger. Wahrscheinlich war er ein Vergewaltiger oder so. Wer zum Teufel weiß das schon?«
    »Hast du mit ihm gesprochen?«
    »Ja, ein oder zwei Mal. In meinem ersten Jahr hier. Dann wollte er mich bescheißen. Clarence mag … äh, mochte keine Weißen. Er hat auch Bert beschissen. Dass wir zum Ende des Ausgangs alle in die Käfige müssen, das verdanken wir Clarence.«
    »Wieso das?«
    »Der hat sich doch aus allem möglichen Zeug Messer gebastelt, und als wir am Ende des Ausgangs alle beisammenstanden, hat er versucht, die Weißen unter uns abzustechen.« Robert scheint heute außergewöhnlich heiter zu sein. »Mann, wie ich mich freu, dass ich dieses Arschgesicht nie wieder sehen muss. Das ist wie ein Sonnenstrahl, der meinen Tag aufhellt. Vielen Dank, Herr Henker.«
    Auf der anderen Hofseite sehe ich Bert und Ernie sprechen. In der anderen Ecke, neben der Tür, sehe ich Clarences Freund, den Schwarzen, dessen Namen ich nicht weiß, ganz allein dastehen. Er erinnert mich an einen alten Löwen, den ich mal in einer Natur-Doku gesehen hab, der von einem jüngeren, stärkeren Löwen aus seiner Position verdrängt worden war. Der alte, von Wunden übersäte Löwe entfernte sich ein paar hundert Meter und blickte zurück auf die Löwenherde, mit der er einst gelebt hatte.
    Ich bin versucht, ihn zu uns rüber einzuladen, aber ich weiß, dass Robert ihn wegen Clarence verhöhnen würde, und das würde nicht gut ausgehen,

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