Hoffnung ist Gift: Roman (German Edition)
immerhin die Einsicht durch, dass dies eine grausame und ungewöhnliche Form der Bestrafung sei. Da ich weder zum Tode noch überhaupt zu irgendeiner Strafe verurteilt bin, betrifft mich das nicht, und ich darf jeden ersten Donnerstag des Monats Mördern dabei zusehen, wie sie besser essen als ich. »Ich wusste, dass es so ausgehen würde.«
Ich denke über Roberts Aussage nach und frage mich, wie hoffnungslos dein Leben sein muss, wenn du jeden Tag davon überzeugt bist, dass man dich über kurz oder lang nicht nur einsperren, sondern von Staats wegen zu Tode bringen wird. »Warum bist du nicht in einen Staat gezogen, wo die Todesstrafe nicht verhängt wird?«, frage ich ihn.
Er lacht. »Ich wusste es. Ich hab nicht gesagt, dass es mir was ausgemacht hat.«
Das Erstaunliche an Robert ist, dass er wie ein ganz normaler Typ aussieht. Er ist weder besonders groß noch klein, weder aggressiv noch unterwürfig, weder zu füllig noch zu dünn. Ein Typ, wie er neben dir im Zug sitzt, im Kino oder in meinem Taxi. Er sieht gut aus, aber nicht aggressiv gut, mit einem angenehmen, aufmerksamen Gesichtsausdruck und hellen Augen, dazu sein Humor, der zwar im ersten Augenblick ein bisschen wie Schadenfreude rüberkommt. Ich bin mir sicher, dass er sich unauffällig kleidete, als er seine Kleidung noch selbst auswählen konnte.
Doch hier im Todestrakt ist er am Ende seines Weges angekommen und entdeckt plötzlich die selten erlebte Freiheit absoluter Ehrlichkeit. Er muss seine Lebenslüge nicht mehr aufrechthalten. Seit er in einem Betonkasten lebt, braucht er sich nicht mehr isoliert zu fühlen. Jeder hier weiß, was er getan hat, und das scheint für ihn ebenso in Ordnung zu gehen wie die Konsequenzen, die er für sein Handeln nun zu gewärtigen hat. Er wartet, bis sein Tag kommt, und seine einzige verbliebene Freude ist seine vollkommene und ausgesprochene Freiheit, ganz einfach zu sagen, was er sich denkt.
»Ich war in der vierten Klasse, da hat mir dieser Junge, ein kleiner Tyrann, meinen Schreibstift weggenommen. Da hab ich mir einen Schraubenzieher geholt und war drauf und dran, ihm damit ins Auge zu stechen, als ein Lehrer noch rechtzeitig einschritt. Ich weiß noch, wie der Lehrer sagte: ›Ich weiß, dass du den Schraubenzieher nur genommen hast, um hier den harten Kerl zu markieren … nicht um wirklich zuzustechen.‹ Er hat uns beide bestraft. Der kleine Klassentyrann hat niemals erfahren, wie nah er dran war, als Einäugiger durchs Leben zu gehen.«
Robert lacht, während er seine Orangensaft-klebrigen Finger an seinem weißen Overall abwischt. »Nach ein paar derartigen Ereignissen kommst du irgendwann drauf, dass du anders bist. Jeden Tag versuchst du dich zurückzuhalten, schließlich ist dir klar, dass dieser absolute Wille, alles zu zerstören, was der Erfüllung deiner Wünsche im Weg steht, nicht normal ist. Du musst dir mal vorstellen, dass ich im College einen Typen nur deshalb umbringen wollte, weil er den Klassendurchschnitt nach oben gedrückt und mir damit die Note versaut hat. Nur um aus einem C ein B zu machen, wollte ich ihn auf einem Gartenweg erwürgen. Findest du das krank?«
Ich nicke. »Ja, schon. Ein wenig übertrieben.«
»Aber aus meinem C wäre ein B geworden«, sagt Robert. »Mir kommt das gar nicht krank vor. Ich weiß aber, dass andere Leute das krank finden. Nach einer Weile lernst du, es zu verheimlichen. Also hab ich mich zurückgehalten, Mann. Ich bin gut erzogen. Meine Eltern waren in Ordnung.«
Er isst die Orange fertig und fängt eine neue an. Mir wird vom frischen Obst nichts angeboten, dazu ist es ein zu wertvolles Gut, und außerdem hat sich hier jeder um sich selbst zu kümmern. Deshalb bin ich überrascht, als Robert einige Spalten herausreißt und sie mir reicht: »Da, nimm.«
»Danke«, sage ich und versuche, sie ihm nicht wie ein Verhungernder aus der Hand zu reißen.
»Als meine Mom und mein Daddy starben und ich auch noch meinen Job verlor, begann ich zu überlegen, was für einen Sinn es eigentlich hatte, mich so zusammenzureißen. Ist ja keiner mehr da, den es kümmert. Ich kann ganz ich selbst sein. Und bei meinem Prozess haben sie ein oder zwei Tage lang nur darüber geredet, was für ein böser, herzloser Scheißkerl ich bin. Mein Gott, diese ahnungslosen Idioten. Als ich zum ersten Mal jemanden umbrachte, war ich schon einunddreißig. Einunddreißig verdammte Jahre lang hab ich alles zurückgehalten, und das ist mir ganz schön schwergefallen. Für einen
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