Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Neurologie. Woher soll sie das wissen? Jonna nickt zerstreut, und sie nehmen einfach auf gut Glück einen Aufzug, fahren ein paar Etagen in dem gigantischen Häuserkorpus hinauf, betreten einen identischen Flur und starren auf die Schilder, die dort hängen. Biobank. Aufzug B, C, D. Infektionsklinik. Eine Tür mit Milchglas, auf der anderen Seite schreit ein Kind, es ist jene Art von Schrei, der einem eine Gänsehaut verursacht, bei dem man den Schmerz fast selbst im Rückenmark spürt, und Jonna geht schnell wieder in den Aufzug und drückt auf einen Knopf. Da waren sie wohl falsch.
Dann fahren sie wieder zum Eingangsbereich hinunter, irren in einen anderen Flur, Jonna hält Alex die ganze Zeit ganz fest am Arm und hofft, dass sie den richtigen Weg findet, aber sie ist ja ebenso verwirrt wie Jonna. Chirurgie. Aufzug A, E, F. Neurologie. Und sie verlaufen sich nur noch mehr.
Nein, Moment, da steht doch Ambulanz und Notaufnahme. Muss es da nicht sein? Jetzt ist es Jonna, die Alex hinter sich herzieht, zurück in die Eingangshalle und von dort nach rechts in einen weiteren ewig langen Flur. Und die ganze Zeit über rattern die Gedanken im Kopf auf Hochtouren.
»Wo war das denn in einer Schneewehe?«
»Vor … Södra Station.«
Gestern. Jonna bleibt stehen, und sie tauschen einen Blick aus. Auf dem Weg von der U-Bahn-Haltestelle Mariatorget zum Vorortzug nach Nynäshamn. Wenn sie die hundert Meter gemeinsam gegangen wären, wenn Alex und Jonna darauf bestanden hätten, Minken zu begleiten – dann würden sie jetzt alle drei hier liegen.
Schließlich finden sie die Abteilung. Alex klopft an eine Glastür, eine Krankenschwester kommt hinter einem Schreibtisch hervor und öffnet ihnen, und Alex stellt sich als die Freundin von Mikael Olsson vor. Stumm bringt die Krankenschwester sie zu einem Zimmer. Als sie die Tür öffnen, fährt ein Mann in Norwegerpullover von einem der Stühle hoch.
»Hallo, komm rein. Ich werde mal …«
Der Mann entschuldigt sich damit, dass er einen Kaffee braucht, und eine dünne Frau steht auch auf, aber sie sieht zu Boden und hält sich eine Hand vor den Mund, als sie sich an ihnen vorbeischiebt, sie kriegt nicht einmal ein Hallo heraus.
Waren das Minkens Eltern? Alex und die Krankenschwester gehen ins Zimmer, aber Jonna dreht sich noch einmal um und schluckt. Schafft sie es hineinzugehen, oder kann sie sich drücken? Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Alex und sie auch hier liegen.
Den Blick fest auf den Boden gerichtet, tastet sie sich bebend hinter Alex in das Zimmer. Sie sieht nicht auf, hört aber, wie die Krankenschwester ihnen sachlich die Funktionen all der Maschinen erklärt, an die Minken angeschlossen ist. Sie berichtet ihnen kurz von seinen äußeren und inneren Verletzungen und sagt, dass er im Verlauf der Nacht zweimal operiert worden sei und noch weitere Operationen vor sich habe. Jonna nickt, und die Krankenschwester streicht ihr über die Schulter und reicht Alex ein paar Taschentücher. Sie scheint es völlig normal zu finden, dass die Mädchen so verweint und verquollen aussehen. Und dann geht sie zu ihrem Schreibtisch zurück und bittet die beiden, Bescheid zu sagen, wenn etwas ist.
Jonna setzt sich vorsichtig auf einen der Stühle am Bett. Da sitzt sie nun neben Alex und hat eine Heidenangst hinzusehen, obwohl ihr Blick unvermeidlich zum Bett hingezogen wird, und in ihrem Kopf kreisen die Worte der Krankenschwester, herum und herum.
Ruft, wenn etwas ist. Wenn. Es ist ja wirklich etwas. Aber Rufen hilft jetzt nicht mehr. Zu spät. Das ist ihr schon gleich klar geworden, als sie Minkens Eltern gesehen hat, schon als sie über die Schwelle in das Zimmer kam. Wo man auch hinsieht, zu den Maschinen um das Bett, auf Minkens Gesicht oder auf alle die Schläuche – es ist glasklar. Sie können wie die Behämmerten rufen, Alex und sie, aber das wird nichts mehr helfen.
Die Augenhöhlen sind wie zwei Geleeklumpen, und die Haut darum herum ist flammend lila-schwarz. Das Schwarze ist über die Schläfen hinuntergewandert, das sei normal, hat die Krankenschwester gesagt, das ist offenbar so, wenn einem jemand mit dem Schuhabsatz auf den Kopf tritt.
Die linke Augenbraue ist mit grobem schwarzem Garn genäht, schief und seltsam, als ob es schwer gewesen sei, noch intakte Haut zu finden, an der man etwas festnähen könnte. Das Nasenbein ist an zwei Stellen gebrochen, Jonna sieht, dass es unter den Schwellungen bucklig ist, und der Mund hat auch eine ganz
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