Hogan, S: Steampunk-Saga: Episode 2
einem Schneider maßanfertigen lassen.“
James schüttelte lächelnd den Kopf. „Der erste Eindruck ist nicht immer der richtige. Mein Vater war kein Lord oder reicher Kaufmann, sondern ein hart arbeitender Bergmann in Wales. Nachdem Dad bei einem Grubenunglück verschüttet wurde und meine Mom vor Kummer starb, kam ich in ein Waisenhaus. Dort wurde entdeckt, dass ich fleißig lernen konnte – wenn ich wollte. Ich bekam ein Stipendium für begabte arme Kinder und studierte Jura. Ich bin ein Rechtsanwalt, der ziemlich wenige Mandanten hat. So bleibt mir genug Zeit für den Kampf gegen Vampire und andere Kreaturen der Unterwelt.“
„Und wie sind Sie Mitglied der Bruderschaft vom Reinen Herzen geworden?“
„Ich wurde auserwählt. Meine zukünftigen Mitbrüder führten mich in Versuchung, risikolos ein schlimmes Verbrechen zu begehen. Natürlich war das Ganze eine Falle, aber davon wusste ich nichts. Jedenfalls ließ ich die Finger von der Sache. Daraufhin wurde ich eingeweiht und in die Bruderschaft aufgenommen.“
Während James redete, war Kate unwillkürlich immer näher an ihn herangerückt. Sie mochte den vertrauenerweckenden Klang seiner dunklen Stimme sehr. Und sie spürte, dass er es ehrlich mit ihr meinte. Sie war die Tochter eines Dampfkutter-Piloten, er war der Sohn eines Bergmanns. Es gab keine soziale Kluft zwischen ihnen. Kate beschloss, ihre eigene Zurückhaltung und ihre Zweifel zu überwinden, denn James bedeutete ihr wirklich sehr viel. Aber es fiel ihr leichter, gegen wütende Droschkenkutscher zu kämpfen als gegen sich selbst. Kate atmete tief durch.
„Wie muss ich mir Ihren Geheimbund eigentlich vorstellen, Mr Barwick? So ähnlich wie einen Mönchsorden?“
„Ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen, Miss Fenton.“
„Nun, ich meine, ob Sie beispielsweise eine Frau küssen dürfen.“
Wenn er diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht versteht, dann kann er trotz Jura-Studium nicht allzu klug sein , dachte Kate. Aber ihre Bedenken waren völlig unberechtigt.
James zog Kate sanft an sich. Sie öffnete ihre vollen naturroten Lippen, und schon spürte sie seinen Mund. James’ Kuss war schwindelerregend schön. Er war eben ein außergewöhnlicher Mann. Kate schloss die Augen und gab sich ganz den schönen Gefühlen hin, die tief aus ihrem Inneren aufstiegen.
Kate und James wurden aus ihrer romantischen Stimmung gerissen, als sich jemand geräuschvoll räusperte. Kate schlug die Lider auf. Singh stand an der Tür, er war in die Suite zurückgekehrt. Der alte Inder schaute das Liebespaar schmunzelnd an.
„Ich bin untröstlich, weil ich Sie ausgerechnet jetzt stören muss. Aber unser Bruder Phineas meldet sich nicht. Und diese Tatsache beunruhigt mich ernsthaft.“
Kate erfuhr nun, dass das dritte Mitglied der Bruderschaft Phineas Fletcher hieß. Singh hatte ihm per Morsetelegramm eine Nachricht geschickt, damit sich Fletcher ebenfalls im Hotel Mandarin Oriental einfand. Aber er war nicht erschienen.
James schlug nachdenklich seinen Silberlöffel rhythmisch gegen die Untertasse. „Hast du das Telegramm an seine Privatadresse geschickt, Bruder Singh?“
„Ja. Soweit ich weiß, ist Bruder Phineas ein Privatgelehrter und übt keinen Beruf aus. Also hat er auch keine Geschäftsadresse, nicht wahr?“
„Das stimmt. Aber Bruder Phineas betritt seine Wohnung fast nur zum Schlafen, soweit ich weiß. Ansonsten ist er so gut wie immer in seinem Club anzutreffen. Unser Bruder ist Mitglied im Xerxes Club in der Bond Street.“
„Dann sollten wir uns unverzüglich dorthin begeben. – Nicht wahr, Miss Fenton?“
Kate zuckte zusammen, als Singh ihren Namen nannte. Sie hatte gar nicht richtig zugehört, denn der Kuss wirkte immer noch bei ihr nach. Es kam ihr so vor, als ob sie mit offenen Augen träumen würde. In diesem Moment musste Kate ihre eigenen sentimentalen Gefühle gewaltsam unterdrücken. Sie führte sich vor Augen, dass die gefährliche Vampirsippe noch nicht besiegt war. Die finsteren Pläne dieser Blutsauger mussten unbedingt durchkreuzt werden. Und dafür war ihre ganze Aufmerksamkeit gefragt.
Es war gewiss kein gutes Zeichen, dass dieser Bruder Phineas sich noch nicht gemeldet hatte. Kate straffte sich und stand vom Sofa auf. „Mein Dampfkutter ist sofort abflugbereit, Mr Singh.“
„Ich habe nichts anderes erwartet, Miss Fenton“, sagte der Greis mit dem Turban lächelnd.
Kate, James und Singh eilten hinunter zu der Gasse, in der sie den Drehflügler
Weitere Kostenlose Bücher