Hohe Wasser
vor dem Wasser. Obwohl er ein guter Schwimmer war, entfernte er sich nie weit weg vom Ufer. Es reizte ihn nicht. Bei Schiffsreisen blieb er stumm. Bis der Abstand von Land zu Land überwunden war, dachte er an nichts anderes als die jahrtausendealte Erfahrung an Schiffsbaukunst, die in so einer Fähre steckte. Ein Gewitter im Gebirge machte ihm nichts aus. Aber auf dem Meer versetzte ihn eine leichte Brise in Unruhe. Jetzt eignete er sich Kenntnisse über das Segeln an und befasste sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Schifffahrt. Seit einem Seminar mit der Beraterfirma redeten die Führungskräfte, als hätten sie das Kapitänspatent erworben. Er war ein Hoffnungsträger und musste Bescheid wissen, wenn von der Verantwortung des Skippers, den Pflichten der Mannschaft, von falschen Knoten, vom Zusammenspiel von Wind und Segel die Rede war. Die Teilnehmer des Seminars waren tatsächlich bei Seegang hinausgesegelt, um zu erfahren, was es heißt, in einem Boot zu sitzen. Kurz nach dem Segeltörn der Führungskräfte an der istrischen Küste wurden die Mitarbeiter informiert, dass das Schiff aus dem Ruder gelaufen war. Jetzt segelte die Firma wieder auf Kurs. Um diesen Kurs zu halten und in sichere Häfen einzulaufen, war der Einsatz aller notwendig. Von der Heuer, die einbehalten werden sollte, sprachen sie dann doch nicht. Das überließen sie dem Betriebsrat, der von notwendigen finanziellen Opfern stammelte und auch den einen oder anderen Abgang nicht ausschließen wollte. Der Betriebsrat saß mit ihnen im Boot. Wahrscheinlich wusste er um zeitgemäße Entsprechungen für die Strafmaßnahme des Kielholens.
Er hatte sich ein Schifffahrtslexikon besorgt und ein Segelhandbuch für Anfänger. Es war wichtig, ihre Sprache zu sprechen. Zur Zerstreuung hatte er auch noch ein schmales Buch über Monsterwellen gekauft. Freak Waves. Das Buch war in englischer Sprache verfasst. Seine Lektüre auf dieser Reise.
Sie hatte ihr Buch auf den Kopfpolster gelegt und sah ihm beim Lesen zu. Dann schob sie ihm ihr nacktes Bein auf den Bauch. Jedes Jahr verschwinden Containerschiffe oder Öltanker spurlos. Insgesamt sollen in den letzten zwanzig Jahren zweihundert Supertanker auf den Weltmeeren verloren gegangen sein. Die Reedereien versuchen diesen Umstand geheim zu halten. Etwas Unerklärliches geschieht draußen auf Hoher See. Manchmal fängt ein anderes Schiff noch einen Notruf auf. Oft ist das Schiff in einen starken Sturm geraten. Es gibt besonders gefährdete Gebiete. Das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas, den Nordatlantik, die Nordsee vor Norwegen und das Meer südöstlich der japanischen Inseln. Es geht immer sehr schnell. Zurück bleiben nur unbemannte Rettungsinseln oder versprengte Schwimmcontainer. Das Lesen fiel ihm leicht, die vielen unbekannten Fachwörter brachten ihn nicht aus dem Fluss, sondern regten ihn an, das Texträtsel zu lösen, um mehr über das Geheimnis der verschwundenen Schiffe zu erfahren. Sie schob ihre Hand unter dem Buch auf seine Brust. Noch immer sah sie ihm beim Lesen zu. Er ahnte, was kommen würde, und schaute geradeaus in sein Buch. Es gab die Abmachung. Warum hielt sie sich nicht daran? Sie schmiegte sich an ihn.
– Wir sind in Dublin, sagte sie, freust du dich?
– Du siehst doch, ich lese.
– Was liest du?
– Das siehst du doch. Ein Buch über Monsterwellen. Frage bitte jetzt nicht weiter, was Monsterwellen sind, ich kann es dir nicht sagen, weil du mich nicht lesen lässt.
– Erzähl mir nichts über Monsterwellen, sagte sie. Ich weiß, was es heißt, neben einem Monster zu liegen.
Er klappte das Buch zu. Er verfluchte diese Frau, die ihn nicht in Ruhe ließ, er verfluchte dieses Fremdenzimmer mit der schrecklichen Tapete, er verfluchte sich und seine Hilflosigkeit. Er wollte keinen Streit und keine Tränen. Warum lernte sie nicht weiter in ihrem »Irish for Beginners«? Warum las sie nicht im Reiseführer, um sich auf die Weiterreise vorzubereiten? Dublin – Dingle – Cape Clear – Aaran Islands – Galway: Allein diese Route war eine Schnapsidee. Damals waren sie per Autostopp unterwegs gewesen, und ihre Ziele hatten sich zufällig ergeben. Jetzt fuhren sie mit einem Mietwagen und hatten die Möglichkeit, einer geographischen Logik zu folgen. Aber für die Frau musste die Reise authentisch sein, damit er doch noch zurückfand zu ihr. Sollte er ihr ins Gesicht sagen, dass er sie nicht mehr riechen konnte? Auch ihn hatte der Schlag unvorbereitet getroffen. Er
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