Hohe Wasser
vielleicht gibt ihr das den entscheidenden Ruck. Einen Schritt setzte ich vor den anderen, wie eine Seiltänzerin. Genauso gut hätte ich mir zwei Schritte vor, einen Schritt zurück auferlegen können. In der Salizzada San Antonin angelangt, spürte ich gar nichts. Der Schrecken hatte sich schon im Hotelzimmer breit gemacht, mehr Schrecken hatte gar nicht Platz. In der Bäckerei legte eine Frau in Stanniolpapier gewickelte Ostertauben in die Auslage. Das Fischgeschäft hatte bereits geschlossen, wo sonst Sepie und silberne Fische in Eiskörben auf Käuferinnen warteten, versperrte eine schwere Eisentür die Sicht. Im Lebensmittelladen standen noch Kisten mit kleinen lila Artischocken, glänzenden Mangoldstauden und dunkelrotem Radicchio auf der Straße. Die Obststeigen waren schon weggeräumt. Erst jetzt spürte ich, wie hungrig ich war. Ich hatte schon seit Tagen nur mehr gefrühstückt und Eis gegessen, und jetzt hatte ich nicht einmal dafür genug Geld mit. Ich bog in die nächstbeste Calle ein und war alleine. Hier gab es keine Geschäfte, nur Wohnhäuser, verwinkelte Gassen, die unbewohnt wirkten und verfallen. Es war bereits dunkel, es gab keine Straßenbeleuchtung. Hinter mir die Stöckelschritte einer jungen Frau. Ich blieb stehen. Die Frau hatte hellblondes, schulterlanges Haar und trug einen Mantel mit Pelzkragen. Bei jedem Schritt wippten Haare, Pelzkragen und Mantel im Takt. Die Frau wurde langsamer, zückte eine Taschenlampe und verschwand in einem Hofeingang. Vor mir glänzte ein schwarzer Rio, aber ich sah keine Brücke. Am Campo San Lorenzo hatten Mama und ich auf einem unserer Streifzüge ein Katzenhaus entdeckt. Ein aus Spanplatten gezimmerter Unterschlupf für die Katzen der Umgebung. Dort wurden sie gefüttert, und die Männer wurden auf aufgeklebten Zetteln gebeten, nicht im Katzenwinkel des Campo ihr Pipi zu verrichten. Eine dieser Katzen wünschte ich in meine Nähe. Aber hier war nichts. Nur stumme Häuser und ein schwarzer Rio, der jetzt auch noch einen scharfen Knick machte. Ich kam auch auf meiner Seite nicht mehr weiter. Plötzlich hörte ich wieder Stöckelschritte. Die blonde Frau war jetzt vor mir. Ich folgte ihr durch den Hofeingang, in dem sie eben erst verschwunden war, einem Rio und leeren, zugenagelten Hallen entlang, bis sich die Calle in einer Biegung weitete. Ich stand vor einem Hafenbecken und sah auf der anderen Seite die beleuchteten Löwen, die das Arsenal bewachten. Ich hätte Mama nicht alleine lassen dürfen. Auf dieser Seite des Arsenals waren wir noch nie gewesen, und erst jetzt bemerkte ich, dass ich mit der Frau aus einem abgesperrten Gelände des Areals gekommen war. Während ich mich nach einem Ausgang umschaute, sah ich es in der Ferne blinken. Das Taschenlampenlicht. Es führte mich in eine finstere Calle, ich folgte ihr über einen Rio, kam in eine belebtere Gasse und stand unvermittelt in der Via Garibaldi. Auf dem Campo Bandiera e Moro ging Mama vor dem Palazzo unruhig auf und ab. Als sie meine Schritte hörte, lief sie auf mich zu und küsste mich. Sie hatte eine Fahne mit aufgesetztem Pfefferminzgeschmack. Wir nahmen uns eine Bank und setzten uns in den hinteren Winkel des Campo und schauten dem halben Mond zu, wie er aus einer Wolke über den Himmel rollte und wieder verschwand. Dann gingen wir hinauf. Das Zimmer war einigermaßen aufgeräumt, die Muschelsplitter im Badezimmer verschwunden. Dieses Mal hatte sie den Inhalt ihrer Flaschen selbst entsorgt.
Mit vier schweren Einkaufstaschen kamen die Wolfs aus dem Supermarkt. Auf in die Lagune, sagte die Wolf, auf nach Torcello. Wir haben uns in der Schlange vor der Kassa überlegt, ein bisschen raus aus dem Trubel und den Tag gemütlich ausklingen lassen im Grünen, tut uns allen drei gut.
Also doch acqua alta, sagte der Wolf, als wir an den noch immer rauchenden Trümmern des Mulino Stucky und den noch immer mit ihren Schläuchen im Einsatz stehenden Feuerwehrleuten vorbeituckerten. Die Wolf lachte nicht, und ich auch nicht, denn alle auf dem Vaporetto sprachen von dem Brand, und es war der absolut falsche Zeitpunkt für einen müden Witz.
– Ich möchte wissen, was Mama arbeitet und warum sie mich nicht mitgenommen hat und warum ihr mir etwas verschweigt und wer jetzt auf sie aufpasst, sagte ich.
Der Wolf schaute mich mit sehr ernstem Gesicht an.
– Wir verschweigen dir nichts, sagte er, glaub mir. Wir haben eine Vereinbarung mit deiner Mutter getroffen. Sie wird sich bei dir melden und dir alles
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