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Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Titel: Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Am Abgrund
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Andrej hatte die ganze Zeit über die Toten im Blick und jetzt, nachdem er Barak getötet hatte, kam ihm das Schicksal jedes einzelnen von ihnen noch viel monströser vor als vorhin, als ihn der erste Schock kaum Einzelheiten hatte erkennen lassen. Wahrscheinlich würde er den Anblick der vielen unschuldig Erschlagenen, die unter ihm den Raum füllten, sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. Zudem schlug ihm der süßlich-herbe Verwesungsgestank auf die Lungen, und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Aber das war schließlich kein Wunder: Der Turm hatte sich in eine riesige Gruft verwandelt. Vielleicht würde er ihn nie wieder betreten können, ohne diese schrecklichen Bilder vor Augen zu haben.
Er hatte die Halle schon halb durchquert, als ihm eine Kleinigkeit auffiel, eine kaum wahrnehmbare Ähnlichkeit bei einem der Toten, die mit von ihm abgewandten Gesichtern und verkrümmten Körpern nahe der Mauer lagen … sein Herz setzte ein paar Schläge aus, und als es wieder einsetzte, schien es ihm bis zum Hals zu schlagen.
Der Schock der Erkenntnis traf ihn den Bruchteil einer Sekunde später: Es war Marius, sein Sohn, der sich eigentlich in Kertz aufhalten sollte. Aber … das konnte doch gar nicht sein! Hatte Frederic gelogen, hatte er ihm verschweigen wollen, daß sein Sohn tot war …
Mit zwei, drei schnellen Schritten war Andrej bei dem Toten, starrte voller Entsetzen auf ihn hinab. Er konnte es einfach nicht fassen. Marius’ Haut wirkte blaß und fast durchsichtig, wie die einer wertvollen Porzellanpuppe, aber bis auf den Holzpflock, der seine Brust durchbohrt hatte und in seinem Herzen stak, und Bißspuren an seinem Hals, schien er vollkommen unverletzt zu sein. Seine gebrochenen Augen starrten anklagend ins Nichts, beinahe so, als habe er seinen Mörder gekannt und sich nicht vorstellen können, daß er die grausige Tat vollbringen würde.
Andrej spürte, daß seine Augen feucht wurden. Er begriff es nicht. Soviel Leid. Soviel Entbehrung. Soviel Verzicht. Nur, um seinen Sohn zu schützen, dieses letzte Bindeglied zu seiner Familie, zu Raqi, die nun schon seit Wochen tot war, gestorben, als sie ihr zweites Kind zur Welt hatte bringen wollen. Er hatte einen Bogen um Borsã gemacht, er hatte sich ferngehalten von seiner Vergangenheit, alte Fäden abgeschnitten - nur um nicht ruchbar werden zu lassen, daß Marius sein Sohn war, um ihn nicht der Schande auszusetzen, mit einem Mann in Verbindung gebracht zu werden, der als Kirchenschänder und Dieb galt.
Doch damit, das begriff er erst jetzt, hatte er alles Lebendige, alles Fröhliche und alles Glück aus seinem Leben ferngehalten, er hatte die Chance verstreichen lassen, seinen Sohn aufwachsen zu sehen, sich an seinem Heranwachsen zu erfreuen - für nichts weiter als eine vage Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die nun endgültig zerstört war.
Andrej hielt es nicht länger neben der Leiche seines Sohnes aus. Das Gefühl von Verwirrung und Schmerz wurde übermächtig und drohte, den Damm einzureißen, den sein Verstand angesichts Raqis Tod errichtet hatte, um ihn nicht endgültig in Verzweiflung und Irrsinn abdriften zu lassen. Warum verbreiteten die Körper derer, die man im Leben geliebt hatte im Tode so großen Schrecken?
Als er die Tür des Wehrturmes hinter sich schloß, mußte Andrej sich erst einmal dagegen lehnen. Er hatte das Gefühl, seine Beine würden jeden Augenblick ihren Dienst verweigern. Sein Magen fühlte sich an, als hätte ein Riese seine Faust hineingedrückt und seine Eingeweide von rechts nach links gedreht. Er übergab sich.
Frederic stand ein wenig abseits auf dem Hof. Er rührte sich nicht von der Stelle. Offensichtlich hatte er begriffen, daß Andrej Marius gefunden hatte. »Ich wollte … ich hatte Angst … ich wußte ja nicht, wie Ihr darauf reagiert, wenn ich Euch die Wahrheit sage.«
»Schon gut«, stieß Andrej mühsam hervor. Er ging auf Frederic zu - der wich zuerst zwei Schritte zurück, als fürchte er, Andrej wollte seine Wut und seinen Schmerz an ihm auslassen - und legte dann fast sanft seinen Arm auf die Schultern des Jungen. »Gehen wir«, sagte er. »Lassen wir den Toten ihren Frieden.« Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Später werden wir zurückkommen und sie beerdigen.«
Gemeinsam verließen sie den Hof in Richtung Brücke. Als sie das Tor durchquerten und Frederic Andrejs weißen Hengst sah, blieb er stehen und riß erstaunt die Augen auf.
»Seid Ihr ein Edelmann, Herr?«
»Wie kommst

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