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Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Titel: Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Am Abgrund
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bleiben, ehe er wieder auftauchte und einen tiefen Atemzug nahm. Er traute den Brüdern nicht unbedingt und wollte auf alles gefaßt sein. Außerdem wollte er Frederic nicht mit Sergé alleine lassen. Der Junge planschte irgendwo weit hinter ihm am Strand in der Dünung, und Sergé wartete auf die Rückkehr seines Bruders. Andrej war sicher, daß der vorgebliche Schausteller ihn beobachtete.
    Seit jenen Stunden am Lagerfeuer, in denen sie ihr zerbrechliches Bündnis geschlossen hatten, waren zwei Nächte und ein Tag vergangen. Sergé hatte zwar keine entsprechende Bemerkung gemacht, aber man mußte
    keine außergewöhnliche Menschenkenntnis besitzen, um zu spüren, daß er mißtrauisch geworden war. Zwei seiner Brüder waren tot und er selbst schwer verletzt, während Andrej vor aller Augen durch die Flammen geschritten war, ohne dabei mehr als sein Haar und die Augenbrauen einzubüßen. Die sprichwörtliche Zähigkeit der Delãnys hatte schon oft Mißtrauen erregt, doch es war vielleicht noch nie so berechtigt gewesen wie jetzt. Andrej verstand selbst nicht, warum er und der Junge sich so schnell von ihren Brandverletzungen erholten es hatte etwas geradezu Unheimliches an sich, wie schnell sich die verbrannte Haut abgestoßen hatte, um Platz zu machen für neues, zartrosa Gewebe.
    Delãny tauchte auf, atmete tief durch und bewegte sich einen Moment lang wassertretend auf der Stelle. Er erschrak ein wenig, als er sah, wie weit er sich vom Ufer entfernt hatte. Es wurde Zeit, den Rückweg anzutreten.
    Sein Blick suchte aufmerksam das Ufer ab, während er versuchte, seinen Rhythmus dem der Brandung anzugleichen, damit sie ihm half, schneller zum Strand zurückzugelangen, statt gegen sie ankämpfen zu müssen. Das fiel ihm alles andere als leicht; sein Körper war noch immer so geschwächt, daß er ihm keine Höchstleistungen abverlangen konnte - obwohl es mehr als erstaunlich war, daß er sich überhaupt schon wieder bewegen und schwimmen gehen konnte. Er konnte Sergés Mißtrauen anläßlich seiner schnellen Genesung verstehen. Bislang hatte er die faszinierende Fähigkeit seines Körper, mit Verletzungen und Verwundungen aller Art fast spielerisch fertig zu werden, für ein Geschenk Gottes gehalten. Mittlerweile war er sich gar nicht mehr so sicher, wer ihm diese Gabe vermacht hatte.
    Er entdeckte Frederic am Strand, ziemlich genau an der Stelle, wo er ihn zurückgelassen hatte. Der Junge hatte sich vom Meer fasziniert gezeigt, konnte aber nicht schwimmen - genau wie Andrej übrigens, als er in seinem Alter gewesen war.
    Sergé hingegen war verschwunden. Andrej suchte den ganzen Strand ab, konnte ihn aber nirgends entdecken. Ein schwacher Anflug von Sorge machte sich in ihm breit. Sergés Verletzungen waren schwerer, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Er hatte hohes Fieber, und auch wenn er zu stolz war, es zuzugeben, war doch unübersehbar, daß er unerträgliche Schmerzen litt. Andrej war klar, daß er Sergé so wenig trauen konnte wie dessen Bruder. Sie hatten ein Zweckbündnis geschlossen, das genau so lange halten würde, wie sich die beiden anderen einen Vorteil davon versprachen - und keinen Moment länger. Trotzdem fühlte er sich für die beiden angeblichen Schausteller verantwortlich, vor allem für das, was ihnen im Gasthaus zugestoßen war. Wenn einer von ihnen an seinen Verletzungen starb, dann wäre es für Andrej beinahe so, als hätte er ihn selbst getötet.
    Warum war alles so kompliziert? Michail Nadasdy hatte ihn so vieles gelehrt, und trotzdem kam Andrej mit jeder Stunde deutlicher zu Bewußtsein, wie wenig er im Grunde über das Leben wußte. Um nicht zu sagen: nichts! Die Zeit, die er in selbstauferlegter Isolation mit Raqi verbracht hatte, war sicher die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen, und doch erwies sich diese Isolation nun mehr und mehr als Fluch. Er wußte nichts von der Welt, nichts vom Leben und vor allem nichts von den Menschen. Abgesehen von Raqi hatte er in den letzten Jahren mit keinem Menschen länger Kontakt gehabt, als nötig gewesen war, um ein Stück Fleisch zu kaufen, einen Sack Mehl oder ein Stück Stoff, aus dem sich Raqi ein neues Kleid schneiderte. Er wußte einfach nicht, wie weit er Sergé und seinem Bruder trauen konnte und ob überhaupt.
    Er erreichte das Ufer, richtete sich auf und legte die letzten Schritte mit einem Wanken zurück. Sein Herz hämmerte. Das Wasser hatte ihn bis auf die Knochen ausgekühlt, und er zitterte am ganzen Leib.

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