Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
Gäste auf dem Schloß.«
»Jetzt verstehe ich«, murmelte Sergé. »Deshalb fragt auch niemand, wer das Feuer im Gasthaus wirklich gelegt hat.«
»Und unsere Leute?« fragte Andrej.
Krusha machte eine schwer zu deutende Handbewegung. »Ich weiß es nicht genau. Aber ich nehme an, daß sie im Kerker des Schlosses sitzen. Ich habe mich für heute abend mit einem Mann verabredet, der mir Nachrichten darüber verkaufen will.«
»Und was willst du nun von mir?« fragte Andrej. Er ahnte die Antwort auf seine Frage, und Krusha enttäuschte ihn nicht.
»Es ist eine Sache, es mit einer Bande von Straßenräubern aufzunehmen«, sagte er. »Aber jetzt haben wir es mit dem Herzog zu tun. Und seiner ganzen Armee.«
»Es wird ihnen nichts nutzen«, grollte Sergé. »Ich werde sie töten, und wenn sie sich im Vatikan selbst verstecken sollten!«
»Sei kein Narr, Sergé«, versuchte Andrej den Aufbrausenden zu beruhigen. »Dein Bruder hat recht. So lange sich die Männer im Schloß aufhalten …«
»… sind sie auch nicht sicherer als anderswo«, fiel ihm Krusha ins Wort. »Sie werden die Nacht nicht überleben. Aber ich fürchte, wir können nichts für eure Leute tun.«
»Ihr seid Feiglinge!« begehrte Frederic auf.
»Es hat nichts mit Mut zu tun, in ein Verlies einzudringen, das von zwanzig Soldaten bewacht wird, mein Junge«, entgegnete Krusha ruhig. »Sondern allerhöchstem mit Dummheit.«
»Ihr seid feige!« beharrte Frederic. Er setzte ein grimmiges Gesicht auf. »Aber geht ruhig! Andrej und ich werden sie allein befreien!«
»Natürlich«, sagte Krusha. »Und dann bringt ihr sie aus der Stadt, besorgt Lebensmittel und Wasser für fünfzig Personen und marschiert in aller Ruhe in euer Dorf zurück, und der Herzog steht wahrscheinlich am Straßenrand und winkt euch wohlgefällig zu.« Er lachte abfällig. »Vielleicht weiß ich ja einen anderen Weg.«
»Und welchen?« fragte Andrej.
Krusha lächelte dünn. »Das kommt ganz darauf an, was dir meine Ratschläge wert sind, Delãny.«
8
Constãntã war die mit Abstand größte Stadt, die Delãny jemals gesehen hatte. Michail Nadasdy hatte ihm von Städten erzählt, die hundertmal größer und tausendmal prachtvoller seien, deren Straßen angeblich mit Gold gepflastert seien und deren Türme so hoch seien, daß ihre Spitzen den Himmel zu berühren schienen. Aber er hatte niemals eine Stadt gesehen, die nennenswert größer als Rotthurn gewesen wäre, und die größte Menschenmenge, in der er sich jemals aufgehalten hatte, mochte gerade einmal fünfhundert Köpfe gezählt haben.
Constãntã erschlug ihn regelrecht. Die Stadtmauer erschien ihm höher als die himmelstürmenden Pyramiden, die er ebenfalls aus Michail Nadasdys Erzählungen kannte, und der Marktplatz, auf den sie gelangten, nachdem sie das gigantische Tor passiert hatten, war tatsächlich groß genug, um ganz Borsã und auch noch einen Teil des Schlosses aufzunehmen.
Er war schwarz vor Menschen.
Andrej versuchte erst gar nicht, sie zu zählen oder ihre Zahl auch nur zu schätzen. Dutzende von Marktständen und Karren waren zu einem engen, aber sinnreichen System schmaler Gassen aufgereiht, zwischen denen sich die Menschen in so dichten Trauben drängten, daß Andrej sich unwillkürlich fragte, wieso sie nicht erstickten oder von der sie umgebenden Menge zerquetscht wurden. Der Lärm war unbeschreiblich, und das Durcheinander von angenehmen, fremdartigen, aber zum Teil auch unangenehmen Gerüchen marterte seine Nase ebenso, wie die grellen Farben und das Chaos aus Bewegung seine Augen überwältigten.
»Ich wußte nicht, daß es so viele Menschen auf der Welt gibt!« sagte Frederic. Seine Stimme zitterte vor Staunen und Furcht. Auch Andrej flößte der Anblick der überfüllten Straßen Angst ein.
Schon als sie sich der Stadt genähert hatten, mußte sich Andrej eingestehen, daß es ein gewaltiger Fehler gewesen war, jahrelang das Leben eines Einsiedlers zu führen. Lange Zeit hatte er geglaubt, das zurückgezogene Leben allein mit Raqi würde ihm alles geben, was er jemals im Leben benötigte, aber das stimmte nicht, so glücklich diese Jahre auch gewesen sein mochten. Raqi war stets an seiner Seite gewesen und schließlich gestorben, als gerade ein neuer Lebensabschnitt beginnen sollte - nach der Geburt ihres zweiten Kindes hatten sie vorgehabt, die Berge zu verlassen und woanders ihr Glück zu versuchen, um später vielleicht sogar Marius zu holen und wieder bei sich aufzunehmen. Aber wenn er ehrlich war: Er
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