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Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Titel: Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Am Abgrund
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machte. Daß er wie vorhin keinen vernünftigen Satz zustande brachte, lag nicht nur an ihrem ungewöhnlichen Aussehen oder an ihrem noch ungewöhnlicheren Auftreten. Seine Augen konnten sich von ihrer fast zerbrechlich zu nennenden Statur nicht losreißen, und er spürte ein vollkommen unverständliches Verlangen, sie nicht gehen zu lassen, nicht noch einmal. Das Begehren, sie einfach in die Arme zu nehmen und nie wieder loszulassen, erschreckte ihn selbst über alle Maßen, schien es ihm doch nicht nur vollkommen deplaziert, sondern auch wie ein Verrat an Raqi.
Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Atem ging schneller und unregelmäßig und eine zarte Röte auf ihren Wangen zeigte Andrej, daß es ihr womöglich ähnlich erging wie ihm - oder daß sie sich über alle Maßen über den Burschen ärgerte, der sie so unverhohlen anstarrte. Dennoch: Sie erwiderte seinen Blick so offen und frei, daß er nicht anders konnte, als sich in ihren dunklen Augen zu verlieren, die ihm wie zwei abgrundtiefe Bergseen vorkamen, gleichermaßen tief wie rein.
»Beides«, brachte Andrej schließlich mit belegter Stimme hervor und durchbrach damit die knisternde, kaum noch zu ertragenen Pause. »Aber…«
»Dann laßt Euch gesagt sein, daß man ein Kind nicht mittels Angst erziehen sollte«, fuhr sie befangen fort.
»Furcht ist ein schlechter Lehrmeister.« Die letzten Worte flüsterte sie fast.
»Ich habe keine Angst«, sagte Frederic mit Trotz in der Stimme.
»Natürlich nicht.« Sie lachte leise. »Kein richtiger Junge hat vor irgend etwas Angst. Wie ist dein Name, kleiner Held?«
»Frederic«, antwortete Frederic mißtrauisch. »Aber ich bin schon lange nicht mehr klein.« Seine Augen verengten sich. »Warum wollt Ihr das überhaupt wissen?«
»Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich weiß nur gerne, mit wem ich rede. Mein Name ist Maria. Und wie heißt Ihr?« fragte sie an Delãny gewandt.
»Andrej«, antwortete Delãny. »Frederic ist mein … mein Neffe.« Die Worte klangen nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend. Was war nur mit ihm los? Das letzte Mal, daß er so auf einen Menschen reagiert hatte, war, als er Raqi kennengelernt hatte.
Allein dieser Gedanke versetzte ihm einen tiefen Stich. Irgendeinen Menschen
- ganz gleich, wen - mit seiner geliebten Raqi zu vergleichen, bedeutete einen Verrat an ihrer Liebe.
»Ich … es tut mir leid«, sagte er unbehaglich. »Aber wir sind ein wenig in Eile. Wir haben eine Verabredung und … und noch einen weiten Weg vor uns.«
»Und zweifellos hat Euch Eure Mutter den guten Rat gegeben, Euch nicht von fremden Frauen ansprechen zu lassen«, fügte Maria mit übertrieben gespieltem Ernst hinzu. Dann lachte sie - ihre Stimme war so hell und klar wie der Klang einer gläsernen Glocke - und streckte Frederic die Hand entgegen. »Hast du vielleicht noch genug Zeit, dir von mir eine Zuckerstange schenken zu lassen, Frederic?«
Der Junge war nun vollends verwirrt - und Andrej kaum weniger. Sie lebten nicht in einer Zeit, in der eine Frau einen fremden Mann einfach auf offener Straße ansprach, nicht einmal, wenn es sich um eine so ungewöhnliche Frau wie diese Maria handelte. Aber das allein war es nicht. Irgend etwas an ihrer bloßen Anwesenheit erschreckte ihn so sehr, daß er am liebsten auf der Stelle davongerannt wäre.
Und wahrscheinlich hätte er das auch getan, wäre da nicht dieser sonderbare Ausdruck auf Frederics Gesicht gewesen. Der Junge wirkte immer noch erschrocken und verunsichert, aber da war auch noch etwas anderes.
»Es tut mit leid«, wollte Andrej die Unterhaltung beenden, »aber wir …«
Doch Frederic sagte: »Gerne«, als hätte er Delãnys Worte überhaupt nicht gehört.
Maria ließ erneut dieses helle, glockenhafte Lachen ertönen, in dem eine deutliche Spur von - wenn auch gutmütigem - Spott mitschwang. Ihre Augen funkelten.
»Frederic!« sagte Andrej streng.
»So herzlos könnt Ihr nicht sein, Andrej«, versuchte Maria ihn umzustimmen, »einem Kind eine Zuckerstange zu verweigern, das zum ersten Mal in seinem Leben in der Stadt ist und noch nie einen richtigen Markt gesehen hat.«
»Woher wißt Ihr das ?« fragte Andrej mißtrauisch.
Maria lachte erneut. »Es steht euch in den Gesichtern geschrieben.« Sie streckte wieder die Hand nach Frederic aus und machte mit der anderen eine auffordernde Geste.
Frederic hob den Arm, um ihre Bewegung zu erwidern, drehte sich dann aber halb zu Andrej herum und warf ihm einen flehenden Blick zu. Seine

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