Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
erwecken, der nach einem langen Tag erfolgloser Suche erschöpft zurückkehrte und nicht mehr in der Stimmung war, zu reden oder auch nur einen freundlichen Blick mit seinen Kameraden zu tauschen. Von Ják wußte er, daß wegen der Türkengefahr im Schloß an die hundertfünfzig Soldaten stationiert waren - das waren zwar viele, aber bei weitem nicht genug, um ein unbekanntes Gesicht als etwas Selbstverständliches hinzunehmen.
Drei der vier Männer ignorierten ihn tatsächlich oder warfen ihm lediglich einen flüchtigen Blick zu. Die Atmosphäre äußerster Anspannung, die den ganzen Tag über der Stadt gelegen hatte, war auch hier deutlich zu spüren. Vielleicht herrschte im Schloß ja ein solches Kommen und Gehen, daß es die Männer am Tor einfach müde waren, jede Gestalt in Weiß und Orange einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
Auf drei dieser Männer traf dies zweifelsfrei zu. Der vierte aber sah zu Andrejs Erschrecken genauer hin, straffte sich plötzlich und trat ihm mit einem schnellen Schritt in den Weg. Andrej konnte im letzten Moment den Impuls unterdrücken, nach seiner Waffe zu greifen. Statt dessen blieb er stehen und sah dem Posten fest in die Augen.
Bevor er oder der andere jedoch etwas sagen konnten, erscholl im Inneren des Torhauses ein halblauter Ruf, und als Andrej aufsah, erblickte er Ják, der eilig auf sie zukam. Er trug jetzt einen schlichten, aber geschmackvoll geschneiderten Mantel und dazu eine Mütze aus dunkelrotem Samt. Allein aus der Reaktion der Wachtposten konnte Andrej schließen, daß Ják mehr als ein untergeordneter Höfling oder nur irgendein Dienstbote im Sold des Herzogs war.
»Andrej!« rief er. »Wo bleibt Ihr? Glaubt Ihr vielleicht, daß es einen guten Eindruck macht, wenn Ihr an Eurem ersten Tag gleich zu spät kommt?« Er gab dem Soldaten einen Wink. »Laßt den Mann passieren!«
Er sagte nicht bitte. Sein Tonfall sagte nicht bitte. Er befahl, und er war es gewohnt, zu befehlen. Der Posten trat diensteifrig zurück und senkte hastig den Blick; Ják wedelte erneut unwillig mit der Hand.
Andrej beeilte sich, dieser Aufforderung zu folgen. Rasch und mit demütig gesenktem Blick trat er an dem Wachtposten vorbei in das eigentliche Torhaus hinein, das größer war, als er erwartet hatte - und wesentlich älter.
Der Geruch von feuchtem Stein und Schimmel lag in der Luft, und die wuchtigen Balken, die gut fünf Meter über seinem Kopf die Decke trugen, waren vom Alter sowie dem Ruß und Staub der Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, pechschwarz geworden. Das Holz des gewaltigen zweiflügeligen Tores, das sie passierten, schien längst zu Stein geworden zu sein, aber Andrej entging nicht, daß die Scharniere gut geölt waren. Er glaubte das Rätsel, weshalb sich diese Trutzburg mitten innerhalb der Stadtmauern befand, inzwischen gelöst zu haben: Sie war, von den Hafenanlagen einmal abgesehen, der älteste Teil der Stadt. Constãntã war erst im Laufe der Zeit um diese Burg herum gewachsen, wie kleine Schößlinge, die rings um die Wurzeln eines uralten, mächtigen Baumes aus dem Boden sprießen.
Was Andrej jedoch weniger denn je verstand, war die Frage, warum dieses Bauwerk den Eindruck erweckte, als befände es sich schon jetzt im Belagerungszustand. Der Herzog von Constãntã schien sich bei den Einwohnern der Stadt keiner allzu großen Beliebtheit zu erfreuen - oder er schien schon sehr bald mit dem Auftauchen einer türkischen Streitmacht zu rechnen.
»Ihr kommt spät«, murmelte Ják, als Andrej ihn eingeholt hatte. Sie liefen schnellen Schrittes auf das zweite, innere Tor zu.
»Wir müssen uns jetzt beeilen.«
»Wieso?« Andrej sah seinen Begleiter nicht an. Er wußte zwar weniger denn je, wer der Grauhaarige war, hatte aber aus den Reaktionen der Männer am Tor geschlossen, daß es den einfachen Soldaten des Herzogs nicht erlaubt war, den direkten Blickkontakt mit Adligen zu suchen. Vielleicht jedoch fürchteten sich die Untergebenen des Herzogs auch nur.
»Weil ich gewisse Vorbereitungen getroffen habe«, antwortete Ják. Obwohl er jetzt sehr leise sprach, war seine Stimme noch immer so klar und durchdringend, daß Andrej fast fürchtete, man könne sie überall im Schloß hören. Das Reden gehörte sicherlich zu Jáks Aufgaben hier am Hof. »Das ganze Schloß ist in Aufruhr! Hätte ich vorhin auch nur geahnt, was Ihr mit Eurem feigen Mordanschlag auf Vater Domenicus angerichtet habt, hätte ich den Teufel getan, mich auf dieses Unternehmen einzulassen!«
»Warum
Weitere Kostenlose Bücher