Hokus Pokus Zuckerkuss
Knöchel verstaucht, und sie soll mit dem großen, schweren Topf nicht aus dem
Auto steigen. Deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du ihr auf der Zufahrt entgegengehen könntest.«
Verwundert mustere ich ihr Gesicht. Hat sie den Verstand verloren? Aber als sie zurückstarrt, ohne zu blinzeln, merke ich – sie macht keine Witze. Seufzend stehe ich von der Couch auf.
Auf dem Weg zur Haustür höre ich sie leise zu Father Jim sagen: »Lizzie und ihre Großmutter standen sich sehr nahe. Und ich fürchte, es war keine gute Idee, in ihrer Gegenwart den Trauergottesdienst zu planen. Schon immer war sie – nun – das emotionalste meiner Kinder.«
Die Augen voller Tränen, stolpere ich auf die dunkle Veranda – niemand hat daran gedacht, das Licht einzuschalten. Ich sinke auf die Stufen hinab und lasse meinen Kopf zwischen die Knie sinken. Emotional?
Ja, ich nehme an, das bin ich. Ist es emotional , um meine tote Großmutter zu trauern? Ist es emotional , den Wunsch zu verspüren, jemand würde ihr Begräbnis planen, der sie wirklich kannte – der etwas Bedeutsames über sie sagen könnte?
Ist es emotional, dass ich mich in meiner eigenen Familie wie eine Fremde fühle? Als würden diese Menschen, die ich mein Leben lang kannte, gar nichts über mich wissen – als wäre ich ihnen gleichgültig? Gran ist die Einzige gewesen – die Einzige – die mich jemals verstanden hat.
Nicht, dass ich ihr das gesagt hätte …
Und jetzt lebt sie nicht mehr. Nie mehr werde ich Gelegenheit finden, ihr zu beteuern, wie wichtig sie
für mich war, nie mehr werde ich mit ihr reden können.
Und deshalb bin ich so emotional . Kein Wunder.
Vielleicht sollte ich die Pillen nehmen, die Dr. Dennis mir verordnet hat. In der Tasche meiner Jeans rattern sie in ihrem Röhrchen. Wäre ich dann weniger emotional ? Werden die Tabletten alle meine Gefühle verscheuchen? Das würde ich sogar angenehm finden.
Scheinwerfer flammen auf, und ich hebe den Kopf. Mrs. Brand und ihr Brunswick-Eintopf. Hastig wische ich meine Wangen ab. Mrs. Brand – wer immer sie auch ist – soll mich nicht in diesem jämmerlichen Zustand sehen.
Aber das Auto biegt nicht in die Zufahrt. Stattdessen parkt es unten an der Straße. Die Nacht ist warm und schwül. Durch Dunstwolken sehe ich rote Rücklichter und atme die Sommerluft ein, so vertraut und doch so sonderbar nach den vielen Monaten in der Stadt. Der Duft frisch gemähten Grases, das Sirren der Zikaden, das Zirpen der Grillen – jetzt erscheinen mir diese Sommerdüfte und -geräusche fast fremdartig, weil ich sie so lange nicht wahrgenommen habe.
Jemand steigt aus dem geparkten Wagen. Trotz der Dunkelheit und des Nebels erkenne ich, dass es keine Frau ist, sondern ein Mann, groß und breitschultrig. Ich wende mich ab und schaue zur Seite in den dunklen Garten, wo Rose und Sarah mich damals gezwungen haben, Moms und Dads Decke mit dem Schlauch abzuspritzen. Gran war unser Babysitter
gewesen und hatte ihren geliebten Kochsherry auf diese Decke gekotzt.
Klar, das war nicht besonders lustig.
Aber vorher erzählte sie mir, wie sie während des Zweiten Weltkriegs in der Waffenfabrik gearbeitet hatte. Grandpa kämpfte in Frankreich gegen die Deutschen (alle Soldaten seiner Einheit starben, nachdem sie in einem verlassenen Bauernhaus bei Marseille eine Flasche Wein gefunden und geleert hatten, ohne zu ahnen, dass sie von den Sympathisanten des Feindes vergiftet worden war. Diesen Anschlag überlebte nur Grandpa, ein eingefleischter Abstinenzler). Wenn Gran und die anderen Mädchen am Samstagabend ausgingen, malten sie schwarze Linien hinten auf ihre Beine, damit es so aussah, als würden sie Strümpfe tragen. Denn die ganze Seide war für Fallschirme verwendet worden.
Über so etwas müsste man bei ihrem Begräbnis reden. Über glückliche Zeiten – oder über die unglaublichen Opfer, die ihre Generation gebracht hat, ohne zu klagen. Da sollte man keine Bibelworte zitieren, die nichts mit ihr zu tun haben.
Durch den Dunst sehe ich den Mann zu unserer Zufahrt gehen. Jetzt erkenne ich die Umrisse seiner Gestalt – es ist mein Verlobter.
In meiner Brust scheint das Herz zu gefrieren.
Was macht Luke hier? Gewiss, meine Großmutter ist tot, das Familienmitglied, das ich am meisten geliebt habe. Was ich erst erkannte, als es zu spät war … Und es stimmt, ich war bitter enttäuscht, weil er kein einziges Mal während unserer ganzen Beziehung
versucht hat, meine Verwandten kennenzulernen.
Aber er ist in
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