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Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)

Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)

Titel: Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge González
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Wissen über Europa nur aus Büchern, Zeitschriften oder aus Filmen, die in einer Zeit gedreht worden waren, als ich noch nicht einmal geboren war.
    In der Schule hatte man uns gesagt, dass die besten Schüler im Ausland – genauer gesagt in den sozialistischen Ländern Europas – studieren dürften. Das Eintrittsticket für ein Studium in einem Ostblockland bekam ich also nur, wenn ich einen ausgezeichneten Schulabschluss machte. Dazu musste ich auf eine sogenannte Escuela Vocacional , damals ganz moderne Internatsschulen mit einem hohen Bildungsstandard, die Fidel Castro ins Leben gerufen hatte und protegierte. Ein Vocacional zu besuchen, war in meiner Kindheit das Nonplusultra. Das sozialistische System ermöglichte es besonders guten Schülern, unter besten Unterrichtskonditionen kostenlos eine Eliteausbildung zu erhalten, um die Zukunft des Landes zu sichern.
    Mein Entschluss stand fest: Ich wollte unbedingt auf das Vocacional Ernesto Che Guevara in Santa Clara, das etwa eine Autostunde von meinem Heimatort entfernt lag. Deshalb bereitete ich mich ab der vierten Klasse darauf vor, am Ende des sechsten Schuljahrs einer der besten Schüler zu sein und auf ein solches Internat gehen zu dürfen. Ich nahm Nachhilfe bei der Mutter eines Mitschülers, die als chemische Ingenieurin in der Zuckerfabrik arbeitete und eine sehr gebildete und kluge Frau war. Sie unterrichtete ihren Sohn, mich und noch zwei andere Jungs viermal die Woche abends bei sich zu Hause. Unser Ziel war es, in diesen drei Schuljahren die besten Noten von allen zu haben, da aus Jatibonico nur insgesamt elf Schüler aufgenommen wurden. Ich wusste, dass ich mich anstrengen musste, um einer von ihnen zu sein.
    Jeden Abend nach dem Essen schaute ich mir mit meiner Familie bis acht Uhr eine Telenovela im Fernsehen an. Danach lief ich zum Haus meines Schulfreunds, wo wir mit seiner Mutter bis zehn Uhr Hausaufgaben machten und uns auf die Prüfungen in der Schule vorbereiteten. Ich habe sogar so gut Englisch dort gelernt, dass ich mich mit elf Jahren mühelos unterhalten konnte.
    Es war für mich ein Muss, in der Schule einer der Besten zu sein. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht so sein konnte, wie ich war. Um nicht schikaniert zu werden, musste ich immer darauf achten, dass niemand merkte, dass ich schwul war. Denn so sind Kinder nun mal: Es fängt mit bembón an und endet mit maricón . Die anderen wussten es nicht hundertprozentig, aber sie vermuteten es. Hätten sie mein zweites Ich entdeckt, wäre ich verloren gewesen. Deshalb musste ich mich manchmal mit den Jungs prügeln, denn das war ihre Sprache.
    Aber ich wollte mit Worten Achtung gewinnen. Also habe ich versucht, anders zu kämpfen. Um stark zu sein, war ich ein guter Schüler. Ich wünschte mir sagen zu können: Ja, ich bin homosexuell, aber ich bin besser als du in der Schule. Damit habe ich den Respekt der anderen gewonnen.
    Um mich fernzuhalten von den Kindern, die Sprüche klopften und sich auf der Straße prügelten, nahm ich an den unterschiedlichsten Schulkursen teil: Literaturclub, Sport- und Tanzgruppe – Hauptsache beschäftigt. Vor allem das Tanzen war meine Passion. Mit meiner Partnerin studierte ich richtig akrobatische Nummern ein, mit denen wir bei Schulwettbewerben mitmachten. Die Gewinner durften ihre Klasse bei regionalen und nationalen Wettkämpfen repräsentieren – einmal gewannen wir sogar einen nationalen Preis. Nach den Aufführungen klatschten die Leute immer begeistert – selbst die, die mir auf der Straße bembón oder maricon hinterhergerufen hatten.
    Das war meine Revanche. In diesen Momenten verspürte ich Genugtuung. Siehst du, dachte ich, wenn ich einen im Publikum klatschen sah, der mich früher schikaniert hatte, jetzt applaudierst du dem Schwulen mit der dicken Unterlippe. Der, den du ausgelacht hast, holt gerade den Pokal für deine Schulklasse. Solche Situationen haben mir Kraft gegeben, waren Teil meiner Überlebensstrategie: Die anderen brauchten mich, weil ich ein sehr guter Schüler war.
    Im Sommer 1978 beendete ich die sechste Klasse als einer der Besten und durfte nach Santa Clara aufs Vocacional Ernesto Che Guevara gehen, ein Internat für etwa 4 500 Schüler im Alter von elf bis sechzehn Jahren. Dort blieb ich in einem wöchentlichen Turnus: einmal von Montag bis Freitag und einmal von Montag bis Samstag. Nur die Wochenenden und die Ferien verbrachte ich zu Hause mit meiner Familie. Eine echte Herausforderung für mein gut verstecktes

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